Inhalt
Ivo arbeitet als ambulante Palliativpflegerin. Täglich fährt sie zu Familien, Eheleuten und Alleinstehenden. In kleine Wohnungen und in große Häuser. In immer verschiedenes Leben und Sterben. In immer verschiedenen Umgang mit der Zeit, die bleibt. Zu Hause hat sich ihre pubertierende Tochter längst selbstständig gemacht. Von früh bis spät ist Ivo in ihrem alten Skoda unterwegs, den sie zu ihrem persönlichen Lebensraum gemacht hat. Hier nimmt sie ihre Mahlzeiten zu sich, arbeitet, singt, flucht und träumt sie. Eine ihrer Patientinnen, Solveigh, ist zu einer engen Freundin geworden. Auch zu Solveighs Mann Franz hat Ivo eine Beziehung geknüpft. Tag für Tag arbeiten sie bei der Pflege von Solveigh zusammen. Und sie schlafen miteinander. Solveighs Kräfte schwinden, bald ist sie bei den einfachsten Verrichtungen auf Unterstützung angewiesen. Die letzte Entscheidung will sie alleine treffen. Ivo soll ihr beim Sterben helfen.
Quelle: 74. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Es gibt sone und solche: Patienten, die in Bungalows wohnen und Kunden, die in Holzhütten hausen. Ehepaare, die im Dauerstreit miteinander liegen wie die Brohnsdorfs, wo Thorsten ständig an seiner Gattin Renate herumnörgelt, diese es aber Ivo keineswegs dankt, als sie ihm diesbezüglich die Meinung geigt. Es gibt aber auch ein wundervoll harmonierendes, von Liebe und gegenseitiger Rücksichtnahme geprägtes Paar wie Benedikt und Henner.
Ivo kann sich in ihrem nervenzehrenden Job nicht alles bieten lassen, muss aber ein hartes Fell haben. So bei der Vernehmung durch eine Kommissarin nach dem Tod einer Infusions-Patientin. Pragmatismus vor allem ist gefragt, und eine notwendige Distanz, die freilich nicht in Gleichgültigkeit ausarten darf. Bei ihrer langjährigen Freundin Solveigh fehlt jegliche Distanz, auch nachdem bei ihr die unter ALS bekannte unheilbare neurologische Krankheit ausgebrochen ist, die zu unkontrollierbaren Muskelanspannungen und fortschreitenden Lähmungen führt.
Nun ist Solveigh auch ihre Patientin und Ivo unterstützt deren aufopferungsvoll um sie bemühten Ehemann Franz in jeder freien Minute. Sodass sie ihre pubertierende Tochter Cosima, die mit ihr und dem Familienhund wie in einer lockeren Wohngemeinschaft lebt, noch seltener sieht, was diese aber nicht als Mangel empfindet.
Solveigh, die immer stärker auf fremde Hilfe angewiesen ist, bittet Ivo um Beihilfe zum Suizid, nachdem der Berater eines Hilfsvereins nur palliative Hilfsmittel zur Sedierung offerieren konnte: der Einsatz von Pumpen für Morphium und Schlafmittel sei doch nur eine Quälerei für alle Beteiligten. Ivo reagiert zunächst entsetzt, bespricht sich auf dem wöchentlichen Todeslisten-Meeting mit ihrem Chef Johann. Der schließt nicht nur jede eigene Mitwirkung aus, sondern droht Ivo mit Kündigung, wenn sie die Betreuung ihrer Freundin nicht abgibt.
Die ständig mit Leiden und Tod konfrontierte Ivo sucht sich kleine Fluchten aus dem emotionalen Stress, raucht daheim zur Beruhigung Marihuana, findet Abwechslung in Spielhallen und verabredet sich über Dating-Apps mit Männern. Bis es schließlich mit dem nicht weniger überforderten Franz funkt – und sich die beiden in der „Rhein-Suite“ eines Hotels verabreden.
Als Solveigh stirbt, während Franz außerhalb an einer Tagung teilnimmt, ist Ivos Chef nicht sicher, ob nicht doch Sterbehilfe im Spiel war, stellt aber dennoch einen unverdächtigen Totenschein aus. Ivo und Franz begleiten den Körper der Verstorbenen bis zur Verbrennung des Sarges im Krematorium. Nachdem Ivo ihre Tochter zum Düsseldorfer Flughafen gebracht hat, gibt’s Kärtner Kasnudeln bei Franz: auf Tränen der Trauer folgt ein Lächeln der Befreiung…
Mit „Ivo“, ihrem zweiten Spielfilm nach „Alles ist gut“ (2018), einem Drama über das Trauma einer Vergewaltigung, gelingt Eva Trobisch ein veritables Wunder. Sie war bei der Recherche zu einem „Polizeiruf 110“-Krimi auf den „Todesengel der Charité“ gestoßen und hat sich danach dem Thema Palliativpflege gewidmet. Der mit Aus- und Rückblicken, Spiegelungen und Ausschnitten auch bildtechnisch sehr unkonventionelle Spielfilm blickt mit großer Lebendigkeit und doch voller Respekt auf eine weitgehend tabuisierte Lebenswelt.
Und mit großer Authentizität: Johann Campean, Vater des Kameramannes, ist Palliativarzt im westlichen Ruhrgebiet und hat zusammen mit einigen Kollegen einen Verbund von Einrichtungen der „Spezialisierten Ambulanten Palliativen Versorgung“ (SAPV) gegründet und mehrere Hospize mit aufgebaut. Er war nicht nur der medizinische, lebensweltliche und ethische Berater des Filmteams, sondern auch Laiendarsteller – als Ivos Chef.
Überhaupt kombiniert Eva Trobisch professionelle Schauspieler mit echtem Fachpersonal. Manche Szenen, etwa mit den „Überführern“ Gero Zons und Klaus Leitner, die Verstorbene dem Bestatter zuführen, sind spontan ohne Drehbuch gefilmt worden. Und das mit hoher Tiefenschärfe: der digitale Sensor der Kamera Adrian Campeans wurde mit alten 16mm-Objektiven limitiert. In ihrer ersten großen Kinorolle ist die Theater-Schauspielerin Minna Wündrich das mitreißende Kraftzentrum des auf der 74. Berlinale mit dem Heiner-Carow-Preis ausgezeichneten Films.
Pitt Herrmann