Credits
Regie
Drehbuch
Kamera
Schnitt
Musik
Produktionsfirma
Alle Credits
Regie
Drehbuch
Kamera
Schnitt
Musik
Produktionsfirma
Erstverleih
DVD-Erstanbieter
Länge:
797 m, 29 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:
Erstaufführung (DD): 02.02.1973
Titel
- Originaltitel (DD) In Sachen H. und acht anderer
- Weiterer Titel (DD) Jugendkriminalität
Fassungen
Original
Länge:
797 m, 29 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:
Erstaufführung (DD): 02.02.1973
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Neun Angeklagte im Alter zwischen 16 und 20 Jahren stehen im März 1972 vor Gericht. Ihnen werden Einbrüche mit Raub und Rowdytum vorgeworfen. Zuerst hat, in ihrem Schlussplädoyer, die „Frau Staatsanwalt“ das Wort. Sie spricht von Übergriffen auf Homosexuelle, die sich offenbar regelmäßig am Kollwitzplatz treffen und dabei auf Gruppen von Schülern und Jugendlichen treffen, die quatschen, Musik hören und – wie man heute sagen würde – abhängen bei reichlich Bier und Zigaretten.
In der Befragung der zum Teil noch minderjährigen Angeklagten, Richard Cohn-Vossens Film folgt nicht der achttägigen Prozess-Chronologie des Stadtbezirksgerichtes, können diese, zumeist ist nur ihr Rücken zu sehen, eine gänzliche Anonymität gelingt freilich nicht, was zumindest aus westlich-demokratischer Sicht erstaunt und befremdet, nicht wirklich begründen, warum sie Menschen einzeln und gemeinschaftlich brutal zusammengeschlagen haben. Außer gruppendynamischen Effekten wie dem internen Anpassungsdruck untereinander lassen die Angeklagten mögliche Motive wie Habgier oder Homophobie nicht gelten.
Zeugen werden aufgerufen. Eltern lassen gestörte Familienbeziehungen und eigene Versäumnisse erkennen, Anwohner berichten über laute Musik von Westsendern. Ein in seiner Funktion nicht erkennbarer Vertreter der gesellschaftlichen Gruppen muss auf mehrfache Nachfrage eines der Verteidiger zugeben, dass der Plan zur Errichtung eines Jugendzentrums erst nach Prozessaufnahme gefasst worden ist. Tenor der Verhandlung und des vom Regisseur selbst verfassten Kommentartextes: die staatlichen Stellen haben versagt.
Und es ist, wie offenbar immer wieder behauptet, nicht der verderbliche westliche Einfluss, der das Rowdytum beförderte. Wie sich herausstellt, sind zwei der keineswegs verwaisten Angeklagten elternlos in Heimen aufgewachsen – und waren bis zur Erreichung der DDR-Volljährigkeit im Alter von 18 Jahren in Jugendwerkhöfen interniert. Einer der Rechtsanwälte, es handelt sich um den u.a. durch die Begleitung von Ausreiseanträgen auch im Westen bekannten Dr. Friedrich Wolf, bezieht sich in seinem Schlussplädoyer auf die, wie wir heute nach Öffnung der Archive wissen, fürchterlichen Erziehungsmethoden (Schläge, Hunger, sexueller Missbrauch) der Werkhöfe: Sie seien nicht dazu geeignet, junge Heranwachsende zu selbstbestimmten Menschen zu formen. Und der Off-Kommentar fordert nach dem Urteilsspruch, den augenscheinlich nur ratlose Mütter mit betretenen Mienen verfolgen: „Die Gesellschaft darf sie nicht aufgeben.“
1973 bedeutete das Filmen in einer Gerichtsverhandlung, noch dazu mit teilweise minderjährigen Angeklagten, einen absoluten Tabubruch, der in Westdeutschland nicht nur aus Jugendschutz-Gründen unmöglich gewesen wäre: der Film zeigt mehrfach die Gruppe der Jugendlichen auf der Anklagebank, nur ihre Namen sind unkenntlich gemacht worden. Das ist pointiert gesagt die mittelalterliche Pranger-Methode der Zurschaustellung, auch wenn der Film Verständnis für die Angeklagten, nicht für ihre Taten versteht sich, zeigt.
Absolute Tabubrüche für den DDR-Film sind zu diesem Zeitpunkt auch die Themen Homosexualität, erst 1989 von Heiner Carow in seinem Spielfilm „Coming out“ aufgegriffen, hausgemachte Kriminalität ohne westlichen Einfluss sowie Jugendwerkhöfe, 1982 von Roland Steiner erneut aufgegriffen. Wie Richard Cohn-Vossen am 27. März 2019 im Gespräch mit Paul Werner Wagner im Rahmen des nd-Filmclubs im Berlin-Weißenseer Kino Toni offenbarte, war genau dies ein Wunsch der Berliner Staatsanwaltschaft an den Dokfilmer. „In Sachen H. und acht anderer“ arbeitet mit O-Tönen, die bisweilen die Bildsequenzen überlagern. Was der Regisseur mit der Notwendigkeit erklärte, alle zehn Minuten die Filmkassette wechseln zu müssen, während der Ton weiterlaufen konnte. Zudem seien Brüche vorprogrammiert bei dem Zwang, acht Verhandlungstage in einen dreißigminütigen Film zu pressen. Eine Vorgabe der Defa, denn Dokumentarfilme liefen bis auf wenige Ausnahmen wie dem jährlichen Dokfilmfestival in Leipzig nur als Vorfilme in den Kinos.
Pitt Herrmann