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Wo ist ein Mensch zu Hause? In der wechselvollen Geschichte der hessischen Stadt Stadtallendorf haben Fremde sowohl Ausgrenzung als auch Integration erfahren. Heute hilft dort der engagierte und empathische Lehrer Dieter Bachmann seinen Schüler*innen, sich zumindest so zu fühlen als wären sie zu Hause. Die 12- bis 14-jährigen Schüler*innen kommen aus verschiedenen Ländern und sprechen zum Teil noch kein Deutsch. Bevor er demnächst in Pension geht, möchte der Lehrer bei den angehenden Bürger*innen noch die Neugier auf ganz unterschiedliche Beschäftigungsfelder, Themen, Kulturen und Lebensentwürfe wecken. Der fesselnde, einfühlsame Dokumentarfilm vermittelt eine zentrale Erkenntnis: Hätten alle Kinder einen Pädagogen mit derartiger Geduld und großer emotionaler Intelligenz, würden Konflikte mit Worten gelöst und könnte John Lennons "Imagine" Wirklichkeit werden.
Regisseurin Maria Speth und Kameramann Reinhold Vorschneider zeigen, dass Bildung nicht nur wichtig ist, sondern ein spektakulärer Vorgang sein kann – und setzen diesen so wunderbar in Szene, dass der Film selbst fast etwas Heldenhaftes bekommt.
Quelle: 71. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Auf den zweiten Blick ist Stadtallendorf Industriestandort: In großen Lagern untergebrachte Zwangsarbeiter aus ganz Europa schufteten während der Zweiten Weltkriegs in der größten Sprengstoffproduktionsstätte Europas. In den 1950er Jahren siedelten sich hier die Eisengießerei Fritz Winter und die Schokoladenfabrik Ferrero an mit heute zusammen mehr als 6.000 Beschäftigten, darunter in der Mehrzahl „Gastarbeiter“ aus Italien und Griechenland, seit Mitte der 1960er Jahre vor allem aus der Türkei. Aus neun Ländern stammen die Schützlinge des von seinen beiden türkischstämmigen Kollegen Aynur Bal und Önder Cavdar unterstützten „Herrn“ Bachmann, der bei aller Coolness in Outfit und Auftreten nicht mit dem Vornamen angeredet werden möchte und stets auf Disziplin achtet. Was sich in gemeinschaftlichen Ritualen wie etwa einer Schweigeminute zum Unterrichtsschluss ausdrückt.
Schon ein Blick in den Klassenraum mit seiner Vielzahl an Musikinstrumenten und offenbar selbstgebautem Mobiliar offenbart, dass der empathische Motivationskünstler Bachmann großen Wert auf Kreativität legt – und die alle sprachlichen und kulturellen Grenzen sprengende Kraft von Kunst und Musik. Einfache, anschauliche Übungen begleiten den Lehrstoff, es wird gemeinschaftlich gelesen, gebastelt und, für den Elternabend, bei dem sich übrigens kein einziger Vater zeigt, gebacken und gekocht. Immer wieder geht es um Fragen der Identität, um Familientradition und Zugehörigkeit, letztlich um den Heimat-Begriff. Dieter Bachmann erzählt viel aus seinem bewegten Leben und dem seiner Vorfahren mit innerdeutscher Migrationsgeschichte. Und Aynur Bal, vor 35 Jahren in Deutschland geboren, fühlt sich herausgefordert, hartnäckigen Vorurteilen muslimischer Kinder etwa gegen Juden entgegenzutreten.
Herr Bachmann fördert den Gemeinschaftsgeist, indem er immer wieder gute Schüler animiert, Schwächeren zu helfen, etwa beim Lernen von Englisch-Vokabeln oder in Mathematik. Vor allem aber ist er um die mentale Stärke seiner Schützlinge bemüht, die teilweise ohne deutsche Sprachkenntnisse scheinbar hoffnungslos zurückliegen und am Ende doch die Kurve kriegen. Dabei geht es auch um Auseinandersetzungen mit Eltern, die als Zugvögel quer durch Europa verhindern, dass ihre Kinder irgendwo Wurzeln schlagen können. Nach dem mehrtägigen Klassenausflug zum Pferdehof „Blaues Lenchen“ samt vorbildlicher Konfliktlösung innerhalb der Gruppe zeigen sich die Heranwachsenden gestärkt für die Herausforderungen der Zukunft: Jeder ist in diesem Jahr gereift, hat sich bewährt, stellt etwas dar mit individuellen Fähigkeiten oder sozialer Kompetenz. Wenn es doch überall solche Persönlichkeiten wie Dieter Bachmann gäbe!
Der „Titelheld“ im Grandfilm-Presseheft: „Ich habe mich schon oft gefragt, wie mir das passiert ist, Lehrer zu werden. Ich glaube, die Schüler der Georg Büchner Gesamtschule in Stadtallendorf haben mir unmissverständlich gezeigt, was für einen Lehrer sie haben wollen: einen, der ihnen Äpfel und Müsli und Döner zu essen gibt, einen, der mit ihnen Fußball spielt, Musik macht und malt und Geschichten erfindet und schreibt, einen, der mit ihnen liest, wie die Welt so aussieht und was es zu entdecken gibt, einen, den sie fragen können, was immer sie wollen, aber vor allem einen, der sie nicht abwertet mit Noten, Defiziten. Sie wollen einen Lehrer, der auch gerne in die Schule kommt, mit dem sie lachen und singen und schreien können, einen, der ihnen auch mal sagt, wo es lang geht, wenn die Fäuste geflogen sind und wenn Schwule oder Behinderte beschimpft werden. Im Kern ist es also eine ganz normale Beziehung zwischen Kindern oder Jugendlichen und einem Erwachsenen im Spiegel von: ich trau dir das zu, das machst du besser nicht, hier geht es auf keinen Fall lang, aber ich vertraue dir, ich weiß, du hast es drauf, ich find dich gut.“
Pitt Herrmann