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Die 27-jährige Ukrainerin Marija kommt nach Deutschland, um eine Stelle als Haushaltshilfe und Pflegerin anzutreten. Mit dem Geld will sie den Lebensunterhalt ihrer Familie sichern. 24 Stunden am Tag ist sie nun für den an Demenz erkrankten Curt da – eigentlich ein ganz normaler Job, wäre da nicht Curts Tochter Almut, die sich als kontrollsüchtig und herrisch entpuppt. Als die Situation zwischen den ungleichen Frauen zu eskalieren droht, taucht Almut plötzlich einfach nicht mehr auf. Zugleich beginnt Curt, Marija für seine verstorbene Frau Marianne zu halten. Marija lässt sich auf das skurrile Ehe-Rollenspiel ein, da es ihr den Pflegealltag erleichtert. Allerdings kommt nun immer öfter Curts Sohn Philipp zu Besuch. Er findet Gefallen an der Pflegerin und sucht ihre Nähe. Bald wächst Marija die Situation über den Kopf. Doch eine Kündigung will Philipp nicht so einfach hinnehmen.
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Sie ist schon eine erfahrene Altenbetreuerin im Schwäbischen und spricht ihrer jüngeren Kollegin vor deren erstem Einsatz Mut zu: Ist alles halb so schlimm, wenn nur die Kohle stimmt. Die offenbar alleinerziehende Marija lässt daheim ihren fünfjährigen Sohn Artjom bei ihrer Mutter Tinja zurück und hofft, via Skype mit beiden so oft wie möglich in Verbindung bleiben zu können.
„Ich will sie nicht“ ist die erste Reaktion ihres Patienten, des an Altersdemenz erkrankten Kartographen und ehemaligen Kartenverlegers Curt Wieland. Dessen Tochter Almut hat Marija über die Agentur des Herrn Sievert angeworben, weil sie nach dem frühen Tod der Mutter Marianne nun schon seit Jahren ihren mürrischen bis herrischen Vater in der elterlichen Villa gepflegt hat.
Und nun ihr Recht auf ein eigenes Leben, das vor zwanzig Jahren einmal mit dem Namen Holger in Verbindung stand, einfordert. „In den Kühlschrank bitte keinen Schnickschnack“: Dennoch kann Almut ihre Kontrollsucht nicht ablegen. Minutiös schreibt sie Marija nicht nur den Tagesablauf vor, sondern eine lange Liste von Verhaltensweisen selbst im eigenen Zimmer, in dessen Wände keine Nägel geschlagen werden dürfen. Und das Telefon ist für Auslandsgespräche vorsorglich gesperrt.
„Keine Schminke, kein Nagellack und keinen Besuch“: Marija, die mit einem Babyphone rund um die Uhr mit ihrem körperlich noch ganz munteren Schützling verbunden ist, muss im Haus stets einen weißen Kittel tragen. Mit der Zeit kommt sie mit Curt immer besser zurecht, was vor allem daran liegt, dass er sie für seine Gattin Marianne hält und Marija ihm diese Illusion lässt, indem sie etwa die eleganten Kleider der jung Verstorbenen trägt und nach deren handgeschriebenem Rezeptbuch kocht. Zudem hat die Ukrainerin als erste erkannt, dass Curt Diabetiker sein muss.
Als dieser seine eifersüchtige Tochter nur „die Vorgesetzte“ nennt und wie eine Fremde behandelt, stürmt Almut wutentbrannt aus dem Haus und ist anschließend nicht mehr erreichbar, sodass die Medikamente und die Essensvorräte zur Neige gehen. Anina rät, den verlorenen Sohn der Familie zu kontaktieren – und der steht plötzlich in der Wohnung: Philipp Wieland, der als Kind ins Internat „weggesteckt“ worden ist und seinen Vater für den Tod seiner Mutter verantwortlich macht, ist fasziniert von der jungen empathischen Pflegerin.
Er kleidet Marija neu ein, sorgt für Arznei- und Lebensmittel, ein neues Handy und ein Geschenk für Artjom zum bevorstehenden Geburtstag, lässt auch ordentlich Bargeld da. Und kehrt mit seinem Porsche Cabrio noch am gleichen Abend zurück statt in Hamburg seinen offenbar florierenden Geschäften nachzugehen: bis hin zum Heiratsantrag auf Knien ist der Neurotiker mit psychopathischen Anfällen bereit zu gehen, um Marija zu gewinnen.
Doch die kümmert sich gern um seinen Vater, der förmlich auflebt bis hin zum gemeinsamen Ausflug im Mercedes-Cabrio aus den 1970er Jahren: der Garten einschließlich des Gemüsebeetes ist wieder in Betrieb, wenn auch der Pool noch ohne Wasser. Als Marija, die wegen eines dummen Missverständnisses den Geburtstag ihres Sohnes verpasst hat, der nun nicht mehr mit ihr sprechen will, auch noch die Pflege von Almut Wieland aufgebürdet werden soll, zieht sie die Reißleine…
Das Drehbuch- und Regie-Duo Nadine Heinze und Marc Dietschreit hat bereits eine Reihe von Kurz- und Langfilmen zusammen gemacht, darunter „Das fehlende Grau“ (2014) über eine Borderline-Erkrankung. Mit ihrem Spielfilm-Kinodebüt „Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen“ präsentieren die beiden eine Tragikomödie, die über die realistische Schilderung der Ausbeutung ausländischer Pflegekräfte in Deutschland weit hinausgeht: Günther Maria Halmer und die selbst aus einer russlanddeutschen Familie stammende Emilia Schüle offenbaren mit einer großen Leinwandpräsenz die häufig existenziellen wechselseitigen Abhängigkeiten von Pflegerin und Gastfamilie.
„Vielleicht hat es die Natur ja ganz gut eingerichtet, dass die Eichhörnchen verhungern, wenn sie vergessen, wo sie ihre Nüsse vergraben haben“: Curts Einsicht verhilft Marija am Ende dieser schließlich hochdramatischen Mischung aus Sozial-, Liebes- und Familiendrama zur weisen Entscheidung, ihr Leben nicht nach der bestmöglichen Einkommensmöglichkeit auszurichten – und schon gar nicht für einen Stundenlohn von 1,40 Euro. „Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen“ wird am 24. Juni 2022 von Arte erstausgestrahlt.
Pitt Herrmann