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Deutschland, kurz nach dem 2. Weltkrieg: Als jahrelanger Häftling der KZs Buchenwald, Lichtenburg, Esterwegen und Flössenburg erlebte Carl Schrade die Gräueltaten der Nazis aus nächster Nähe. Jetzt soll der ehemalige Juwelenhändler als Kronzeuge der Anklage vor einem Kriegstribunal aussagen, um seine Peiniger hinter Gitter zu bringen. Auf der Anklagebank sitzen SS-Männer, NSDAP-Funktionäre und Ilse Koch, die Frau des berüchtigten KZ-Kommandanten Karl Koch. Die Liste ihrer menschenverachtenden Verbrechen ist lang, die Liste der Ausreden und Rechtfertigungen beinahe noch länger. An der Schuld besteht kaum ein Zweifel. Aber woher stammt Carl Schrades umfassendes Wissen über die Abläufe in der Lagerverwaltung und wie überlebte er mehr als zehn Jahre in den Lagern?
Der Film basiert auf den Memoiren des echten Carl Schrade.
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Carl Schrade, ein einfacher Krimineller, gewissermaßen Opfer und Täter zugleich, hat sich – zumindest in der kammerspielartigen Dokufiktion „Der Zeuge“ - nach seiner Befreiung durch die alliierten Truppen wie viele andere KZ-Häftlinge geschworen, nie wieder die Sprache seiner Peiniger in den Mund zu nehmen. Er ging 1945 nach Paris und reiste als Handelsvertreter um die halbe Welt. Doch zuvor trat er als Kronzeuge der Anklage auf – in einem direkt nach der Befreiung improvisierten Prozess der US Army in irgendeiner zum Gerichtssaal umfunktionierten Lagerhalle.
Zwei Simultanübersetzerinnen sorgen vor der Stars-and-Stripes-Flagge für die Kommunikation zwischen Anklägern, Angeklagten und ihrem Verteidiger Dr. A. Wille sowie dem englisch sprechenden Carl Schrade. Wobei sowohl der Richter als auch die beiden amerikanischen Ankläger dem Verfahren stumm folgen, während die Reporterin mehrfach unmittelbar in die Verhandlung eingreift und ebenfalls als Übersetzerin gefordert ist.
Auf der Anklagebank mit der Nummer 20 ein SS-Obersturmbannführer aus dem KZ Sachsenhausen, der nur Befehle ausgeführt haben will, mit der Nummer 48 der Bürgermeister von Weimar, der darauf besteht, als Politiker mit den Verbrechen im KZ oberhalb seiner Stadt nichts zu tun gehabt zu haben, für die sich die Nummer 37 als der SS angehörender Folterknecht in Buchenwald verantworten soll.
Mit der Nummer 13 steht ein SS-Wachmann aus dem KZ Lichtenburg vor dem Militärgericht, mit der Nummer 19 ein SS-Aufseher aus dem KZ Esterwegen, der angibt, als 19-Jähriger aus Angst vor Bestrafung die Befehle seiner Vorgesetzten ausgeführt zu haben, mit der Nummer 66 ein SS-Oberscharführer aus dem KZ Esterwegen, mit der Nummer 50 der zweite Angeklagte, der einen Namen trägt: Max Dehmel, nach Verwundung an der Front nach Flossenbürg gekommen zur Überwachung der Häftlinge.
Auch zwei von Carl Schrade belastete Mitarbeiter der Lagerleitung, ein Kapo mit der Nummern 16 und ein Grüner Kapo (Berufsverbrecher) mit der Nummer 17, müssen sich verantworten ebenso wie der Flossenbürger Lagerarzt Dr. Heinz Schmitz mit der Nummer 42, dem Schrade als Hilfskraft für tödliche medizinische Experimente zugeordnet war.
Einzige Frau und zugleich prominenteste Angeklagte ist Nummer 41: Ilse Koch, die als Frau des KZ-Kommandanten von Buchenwald, Karl Koch, als „Ökonomin der Arbeitssklaverei“ in den Vernichtungslagern gilt. Lina Wendel gibt sie als apathisch entrückt, ganz in ihrer eigenen Welt lebend. Der Filmemacher Bernd Michael Lade lässt sie in der Verhandlung Goethes „Werther“ zitieren: deutsche Hochkultur und monströses Verbrechertum lagen gerade in „der“ Klassikerstadt Weimar eng beieinander, wo aus der Haut von Gefangenen Handtaschen und Lampenschirme gefertigt wurden.
„Der Zeuge“ beruht auf realen Gerichtsprotokollen, Carl Schrades Memoiren sowie dem autobiographischen, 1935 in Zürich erschienenen Buch „Die Moorsoldaten – 13 Monate Konzentrationslager“ des Regisseurs, Schauspielers und KPD-Mitglieds Wolfgang Langhoff, der nach dem Reichstagsbrand 1933 in Düsseldorf verhaftet und in die noch jungen Lager Börgermoor im Emsland und Lichtenburg bei Torgau gesteckt wurde.
Als Regisseur und Hauptdarsteller entwirft Bernd Michael Lade (das frühere Mitglied der DDR-Punkband „planlos“ wurde bundesweit als „Tatort“-Kommissar Kain bekannt) in seinem vom jungen Berliner Unternehmen Maruto produzierten Film binnen 93 nicht immer bannender Minuten ein recht sperriges Gedankenexperiment über Verantwortung und Schuld. Lade stellt Täter- und Opferaussagen dialektisch gegenüber und offenbart in dieser schonungslosen Direktheit Mechanismen, die zur systematischen Ausbeutung und Vernichtung von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern führten.
Pitt Herrmann