Inhalt
Es geht um einen Tag im Leben Ernst Barlachs, den 24. August 1937; um einen Tag der Selbstverständigung, einen Tag kritischer Selbstanalyse. In der Nacht vorher raubten Unbekannte aus dem Dom zu Güstrow eine der ausdrucksstärksten Kunstschöpfungen Barlachs, den "Schwebenden Engel", der seit jener Nacht verschwunden bleibt.
"Wissen meine Figuren mehr als ich?", fragt Barlach in einer Szene des Films. Man hatte ihn zum freiwilligen Austritt aus der Akademie der Künste gedrängt und selbst seine Ehrenmale für die Opfer des Weltkrieges beschlagnahmt oder vernichtet. Vereinsamt und isoliert steht dieser große Künstler vor dem Ende seiner Tage, ahnend, dass seine künstlerische Heimat links war.
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Ralf Kirstens nur sechzigminütiger biographischer Spielfilm „Der verlorene Engel“ trägt den Untertitel „Ein Tag im Leben Ernst Barlachs“: In der Nacht des 24. August 1937 hängen Männer, die einem LKW entsteigen, den „Schwebenden Engel“ ab (er ist, wie der Nachspann verrät, nicht wieder aufgetaucht und nach dem Krieg durch einen Abguss ersetzt worden). Ernst Barlach hat in dieser Nacht einen unruhigen Schlaf, als ahne er das Unheil. Er hat sich zusammen mit seiner Gattin schon seit längerer Zeit von der Außenwelt abgeschottet, weil er Übergriffe der Nazis befürchtet.
Noch könnte er aus Deutschland weggehen. Doch wohin? Wovon sollten er und seine Frau leben? Barlach bewundert politisch engagierte „linke“ Künstlerkollegen wie Ernst Nagel und Käthe Kollwitz, deren Gesichtszüge unschwer im „Schwebenden Engel“ zu erkennen sind, aber er ist kein Kommunist – und will auch keiner werden. Wohl gewährt er von Nazi-Banden zusammengeschlagenen Genossen wie dem Kutscher Obdach in seinem Atelier und „verewigt“ sie durch seine Bildhauer-Kunst.
Aber der von den neuen braunen Machthabern als „undeutsch“, „bolschewistisch“ und „entartet“ gebrandmarkte Künstler, der einst 1914 im Ersten Weltkrieg den starken Wunsch hatte, „eins zu werden mit Deutschland“, hat keine Kraft mehr. Seine damalige Kriegsbegeisterung ist ihm heute zuwider, was sich nicht zuletzt an seinen Arbeiten ablesen lässt. „Ich bin Emigrant im eigenen Land“: Resigniert und gebrochen resümiert er, sich stumm in seinem Atelier umschauend: „Barlach braucht keiner mehr“. Um sich dann vom Taxichauffeur zum Güstrower Dom fahren zu lassen, der, wie sein Fahrer glücklicherweise erkennt, von einigen „Volksgenossen“ bewacht wird, die offenbar nur auf den Künstler gewartet haben, um nicht nur sein Werk, sondern nun auch ihn selbst anzugreifen.
„Was bin ich ihnen? Ein Gespenst?“: Als Ernst Barlach auf Umwegen dann doch die Kirche betritt und nur noch die Haken zu Gesicht bekommt, die seine Skulptur getragen haben, wird er eine Hochzeitsgesellschaft gewahr, die wie der offenbar der „neuen deutschen christlichen Kirche“ angehörende Pfarrer vom Kunstraub keine Kenntnis nimmt – und ihn selbst beinahe wie einen Außerirdischen anstarrt. Ralf Kirsten, der Licht und (Orgelmusik-) Ton häufig in suggestiver Weise einsetzt, lässt die Hochzeits- nahtlos in eine Trauergesellschaft übergehen: Prophetische Bilder (wie sie heute etwa Michael Haneke einsetzt) zum Werk eines seiner Zeit weit vorausschauenden Künstlers.
„Du warst doch immer gern allein“: Auch mit der alten Frau Lot, der er in einer Skulptur ein Denkmal gesetzt hat und die ihm jetzt als Holzsammlerin begegnet, entspannt sich kein tröstender Dialog. „Aber einsam war ich nicht“ antwortet Ernst Barlach, dessen Drang, sich selbst das Leben zu nehmen, immer stärker wird: „Ich will Ruhe. Tot sein muss gut sein. Nichts weiter als Ruhe.“
Ralf Kirstens antifaschistischer Film ist so karg und düster wie die norddeutsche Landschaft Mecklenburg-Vorpommerns. Er kommt fast ohne Faschisten und jedenfalls ohne ein einziges Hakenkreuz aus und zeigt einen Künstler, der auf der richtigen Seite steht, der angesichts im Wald spielender Hitlerjungen erkennt, dass hier Kanonenfutter für den Führer herangezogen wird. Der aber die letzte Konsequenz, das Bekenntnis zum Sozialismus, scheut. Ein Jahr, nachdem sein „Engel“ aus der Güstrower Kirche geraubt wurde, starb Barlach.
„Der verlorene Engel“ wurde 1966 produziert, verschwand aber in Folge des 11. Plenums der Staatspartei im Giftschrank. Die Begründung der Hauptabteilung Film ist selbstentlarvend: Weil der Film „ganz allgemein den Gegensatz zwischen Kunst und Diktatur (Totalitarismus)“ anklage, könne er „demzufolge auch als Anklage gegen die staatliche Macht allgemein (also auch gegen die sozialistische Staatsmacht) aufgefasst werden. Der Film irritiert, statt zur klaren antifaschistischen Parteinahme im Sinne der historischen Gesetzmäßigkeit zu erziehen. Mit dieser Position hätte dieser Film ebenso gut in einem beliebigen imperialistischen Staat produziert werden können.“
Nachdem Ralf Kirsten zusammen mit Joachim Nestler und Manfred Freitag seinen Film 1970 noch einmal bearbeitet hatte, konnte „Der verlorene Engel“ noch zu DDR-Zeiten uraufgeführt werden, beinahe heimlich am 18. Dezember 1970 in der Moskauer Botschaft des Arbeiter- und Bauernstaats. Die Deutsche Erstaufführung fand dann größere Beachtung am 22. April 1971 zur Wiedereröffnung des Berliner „Colosseum“ nach umfassenden Renovierungsarbeiten, das Fernsehen der DDR sorgte am 27. April 1975 für die Erstausstrahlung.
Pitt Herrmann