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Im oberschlesischen Gleiwitz nahe der polnischen Grenze wird von den Nazis in der Nacht vom 31. August zum 1. September 1939 der Überfall auf den deutschen Rundfunksender inszeniert, um vor der Weltöffentlichkeit den Überfall auf Polen zu rechtfertigen. Beauftragt damit ist SS-Hauptsturmführer Naujoks. Polnisch sprechende Volksdeutsche aus der SS-Fechtschule spielen die polnischen Angreifer. Ein deutscher KZ-Häftling, in polnische Uniform gekleidet, wird erschossen am Sender zurückgelassen.
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Deutsches Reich, 1939. Die Nazis auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Gestapo-Chef Müller gibt die Parole des Führers, dass die „polnische Frage“ nun „militärisch gelöst“ werde, an einen vertrauten Kreis weiter. Involviert sind neben Hauptsturmführer Helmut Naujocks, seit langem Müllers Mann für schwierige Aufgaben, der „die Sache machen“ soll, vor allem die SD-Chefs von Gleiwitz und Oppeln.
In einer Schule der SS werden sechs Volksdeutsche aus Polen für einen geheimen Sonderauftrag rekrutiert, bei dem es von entscheidender Bedeutung ist, dass sie gleichermaßen der deutschen wie der polnischen Sprache mächtig sind: Sitte, Kühnel, Kraweit, Wyczorek, Bieratzki und Tutzauer werden von Naujocks noch einmal auf Führer, Volk und Vaterland eingeschworen. Sie müssen unter Androhung der (Staats-) Gewalt nicht nur gegenüber der eigenen Person, sondern ihrer Familien schriftlich absolute Geheimhaltung zusichern.
Gleichzeitig wird ein KZ-Häftling mit verbundenen Augen und in Handschellen nach Oppeln überführt, um dort auf die ihm natürlich unbekannte weitere Verwendung zu harren. Als er einen randvollen Teller mit Suppe und ein halbes Brot erhält, für einen Insassen aus dem Konzentrationslager eine kaum zu verkraftende Mega-Ration, scheint er zu ahnen, dass es sich um seine letzte, um eine Henkersmahlzeit handelt. Als ihm ein SS-Arzt eine Spritze angeblich gegen Paratyphus setzt, weiß er, dass seine letzte Stunde geschlagen hat...
„Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“: Gerhard Kleins antifaschistischer Defa-Spielfilm „Der Fall Gleiwitz“, im gleichen Jahr produziert wie Konrad Wolfs Bühnenadaption „Professor Mamlock“ nach Friedrich Wolf, rekonstruiert minutiös den am 31. August 1939 von den Nazis inszenierten „polnischen“ Überfall auf den Rundfunksender Gleiwitz, der als Vorwand diente zum seit langem geplanten und gut vorbereiteten Überfall der Wehrmacht auf den östlichen Nachbarn. Heydrich persönlich löste telefonisch aus Berlin mit dem Codewort die nicht nur für den in eine polnische Uniform gesteckten und von Naujocks höchstselbst erschossenen KZ-Häftling tödliche Aktion aus: Die Bilanz des Zweiten Weltkriegs beläuft sich auf 43 Millionen Tote.
Dass die Defa mit historischen und zumal antifaschistischen Stoffen von Gegenwartsthemen wie dem Bau der Mauer abzulenken versuchte, ist richtig, erinnert sei an Frank Vogels „Julia lebt“ von 1963, trifft aber aus rein produktionstechnisch-zeitlichen Gründen auf „Der Fall Gleiwitz“ der Künstlerischen Arbeitsgruppe Berlin wie im übrigen auf die meisten anderen Babelsberger Filme dieses und noch des folgenden Jahres nicht zu, reichen doch deren Vorbereitungen weit zurück in eine Zeit, da von der bevorstehenden Trennung der beiden deutschen Staaten durch Stacheldraht, Mauer und Schießbefehl zumindest unter den Filmemachern noch niemand etwas ahnen konnte.
„Der Fall Gleiwitz“ ist heute jedoch nicht so sehr filmhistorisch als filmästhetisch von Interesse. Zusammen mit seinem Kameramann Jan Curik und der Cutterin Evelyn Carow gelang Gerhard Klein eine sehr entlarvende Visualisierung faschistischer Manipulation. Schon die technizistisch-kalten Bilder aus dem Sendergebäude lassen dem Betrachter Schauer über den Rücken laufen in Verbindung mit dem Wissen um die Erfüllung des Propagandaauftrags durch die Massenmedien wie Hörfunk, Kino-Wochenschau und, rein quantitativ bei dem frühen Stand der Entwicklung noch keine Rolle spielend, das Fernsehen. Klein hat dazu umfangreiches Ufa-Material von Aufmärschen, Parteitagsreden und auch scheinbar „privaten“ Szenen Adolf Hitlers in seinen betont nüchternen, geradezu dokumentarisch erscheinenden Spielfilm eingebaut.
Pitt Herrmann