Berlin - Auguststraße

DDR 1979 Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Die auch Scheunenviertel genannte Spandauer Vorstadt samt Museumsinsel aus der Vogelperspektive. Linien-/Ecke Tucholskystraße, graue Hinterhof-Tristesse. „Das Spielen der Kinder im Hausflur und auf dem Hof ist verboten“: Vor dem Emailleschild sitzen Kinder auf der Treppe des Hauses. Später toben sie durch Höfe und Durchgänge, mit subjektiver 16mm-Kamera verfolgt (für den Kinoeinsatz wurde Michael Albrechts Material auf 35mm umkopiert). Im düsteren Hof posiert eine Hochzeitsgesellschaft, die Braut ganz in Weiß. Die Gegend zwischen Koppenplatz und Monbijoupark war immer schon ein Arbeiterviertel, dazu passt die dem Film unterlegte expressive Musik Hanns Eislers. Sie entstammt zum überwiegenden Teil „dem“ proletarischen Film der Weimarer Republik, „Kuhle Wampe“.

In einer fünften Klasse der Polytechnischen Bertolt-Brecht-Oberschule an der Auguststraße, bis 1942 Jüdische Mädchenschule Berlin und nach der Wiedervereinigung wieder an die Jüdische Gemeinde restituiert, geht es um den Streit zwischen Petra und Karola. „Bedingungslos mitmachen oder gar nicht“: Der junge, unkonventionelle Lehrer, dessen Name Jäger nur ein einziges Mal beiläufig fällt und in den Defa-Unterlagen warum auch immer verschwiegen wird, ist für klare Verhältnisse, überlässt die Entscheidungen aber vorzugsweise den Zwölfjährigen selbst.

Was nicht heißt, dass er keine klaren Vorgaben gibt. Etwa zur Altstoff-Sammlung rund um den Marx-Engels-Platz (heute: Hackescher Markt) für den an der Auguststraße ansässigen Flaschen-Betrieb. Läuft etwas aus dem Ruder, zeigt er klare Kante: entweder die Klasse entwickelt sich zum vorbildlichen Kollektiv zurück, wie es einmal war, „oder ihr entwickelt euch zu einem absoluten Misthaufen“ (im Protokoll der Defa-Stiftung: „zum absoluten Misstrauen“).

Drei Heranwachsende stehen im Vordergrund, Günter Jordan folgt ihnen auch in der Freizeit und bis nach Hause: Petra, die als jüngstes Kind einer elfköpfigen Familie ohne Vater aufwächst, Karoline, die umtriebige Vorsitzende des Klubs der jungen Künstler und Thomas, der beste Schüler der Klasse, der sich lange weigert, mehr gesellschaftliches Engagement zu zeigen und für den Gruppenrat der Jungen Pioniere zu kandidieren. Fürs bevorstehende Schulfest, das am traditionellen „Tag des Kindes“, dem 20. Juni 1979, auf dem Koppenplatz steigen soll, legt der Lehrer eine Rock’n-Roll-Platte auf: Geprobt wird im Klassenraum der Überschlag - ohne Netz und abfedernden Boden.

An Petras 13. Geburtstag, der groß im Hof des Altbau-Blocks gefeiert wird, geht’s bei „Blinde Kuh“ heiß her. Aber auch um ihre Hilfe bei der Hausarbeit, wenn Mutter auf Schicht arbeitet. Und um Bruder Micha, der alte Leute ausgeraubt hat, um sich einen Lewis-Jeansanzug aus dem Westen leisten zu können: Er hat aus dem Jugendwerkhof immerhin einen schriftlichen Glückwunsch geschickt. Petra spielt in der Kabarettgruppe der Klasse mit und gehört auch zu den Textern.

Herr Jäger lässt zum Ende einer Mathestunde schon ‘mal Kopfrechnen üben – als spielerischen Wettbewerb im Stehen. Und gibt seinen Schützlingen größtmöglichen Freiraum, was etwa die Gestaltung des Schulfestes betrifft, überträgt ihnen aber gleichzeitig auch die Verantwortung. Und zeigt sich offen bei Kritik und Selbstkritik: Als die Schüler ihn bewerten sollen, verlässt er die Klasse. Einziger Negativpunkt, der später an der Tafel steht: „liederlich“. Was wohl seinen Bart, sein vergleichsweise legeres Outfit und sein lockeres Auftreten in der Schule meint.

Karolina moderiert das auch von Eltern gut besuchte Schulfest unter dem Motto „Nischt wie hin“. Danach sitzt Thomas mit eingegipstem Arm im Krankenhaus – der Grund bleibt im Dunkeln. Jedenfalls muss ihm Petra beim Umlegen des Pionierhalstuches helfen, als er sich doch noch in den Gruppenrat wählen lässt. Die Versammlung dreht Michael Albrecht von draußen durch die Fenster des Klassenraums – ohne O-Ton.

Nur eine kurze Andeutung lässt vermuten, dass Herr Jäger nun in die Oberleitung der Schule berufen worden ist und eine stressige Zeit zu Beginn des neuen Schuljahres hinter sich hat. Worunter offenbar auch die nunmehrigen Sechstklässler gelitten haben, wie eine einmal mehr verblüffend offene Aussprache zeigt. Jens, bester Freund von Thomas, hält mit Kritik nicht hinterm Berg: „So finden wir Sie nicht gut, da haben Sie uns in der 5. Klasse bessere Seiten gezeigt.“

„Berlin – Auguststraße“ ist als Dokumentarfilm für Kinder konzipiert, der – unter dem Arbeitstitel „Rotes Halstuch“ – exemplarisch die Entwicklung der Kinder zu sozialistischen Persönlichkeiten begleitet. Und das ohne eigene Kommentierung, aber im Dialog mit den Kindern. Günter Jordan, Leipziger des Jahrgangs 1941, hat zunächst in Jena Slawistik, Geschichte und Pädagogik studiert und ab 1963 drei Jahre als Lehrer gearbeitet, bevor er ein Sonderstudium für Regie an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg absolvierte. Für die Aufnahmen bezog er mit jungen Filmstudenten fünf Monate lang zwischen Anfang Mai und Ende September 1979 unweit der Schule eine Wohnung an der Borsigstraße. Die Dokumentation der KAG Kinder- und Jugendfilm ist am 18. Mai 1980 im Berliner Pionierpalast „Ernst Thälmann“ uraufgeführt worden und am 23. Mai 1980 angelaufen.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
2155m, 78 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
s/w
Aufführung:

Erstaufführung (DD): 23.05.1980

Titel

  • Originaltitel (DD) Berlin - Auguststraße
  • Weiterer Titel (DD) Rotes Halstuch

Fassungen

Original

Länge:
2155m, 78 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
s/w
Aufführung:

Erstaufführung (DD): 23.05.1980