Inhalt
Mit den Menschen brachte das Anwerbeabkommen mit der Türkei 1961 auch die Musik der Gastarbeiter*innen nach Deutschland. Cem Kayas dichter Dokumentarfilmessay ist eine Nachhilfestunde in türkisch-deutscher Zeitgeschichte: Fließbandjobs, Heimweh und Familiennachzug, der Basar im Berliner Hochbahnhof Bülowstraße, Xenophobie und Rassismus, die wehmütigen Lieder der frühen Jahre und der Hiphop der Nachwendezeit. Von all dem erzählen die Musiker*innen, beginnend mit Metin Türköz und Yüksel Özkasap über die psychedelischen Derdiyoklar bis zum Rapper Muhabbet, der in den Charts stand. Ihre Musik entwickelte sich fernab von der deutscher Bands, immer getragen von der türkischen Gemeinschaft und deren Bedürfnissen. Es geht um Radio Yilmaz, diverse Musikkassettenlabels, das deutsche Exil des Protestrockers Cem Karaca und um Hochzeitsbands, die auch auf Kurdisch und Arabisch singen, um den Markt zu bedienen.
Umfangreiche Archivrecherche und das Interesse an türkischer Populärkultur sind wiederkehrende Themen in Cem Kayas Werk. Mit "Liebe, D-Mark und Tod" ("Aşk, Mark ve Ölüm") schafft er ein rhythmisch und lebendig erzähltes, filmisches Nachschlagewerk der türkischen Musik in Deutschland.
Quelle: 72. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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So spielte die Musik als ein Stück Heimat in der Fremde von Beginn an eine große Rolle, in der ersten Einwanderer-Generation vor allem bei Hochzeiten und anderen großen Familienfeiern. Waren es zunächst vor allem melancholische Musikstile wie die Gurbetçi-Lieder (Lieder aus der Fremde), die Künstler wie Yüksel Özkasap, der mit zahllosen Goldenen Schallplatten ausgezeichneten „Nachtigall von Köln“, zu ungemeiner Popularität in der türkischen Community ganz Europas verhalfen, so entwickelten sich über die Jahre – und Generationen - eigenständige musikalische Richtungen, die es in dieser Form im Mutterland nicht gab.
Jüngere Musiker wie das Duo Derdiyoklar („Liebe Gabi“), Ozan Ata Canani („Deutsche Freunde“) oder Cem Karaca und die Kanaken („Mein Freund, der Deutsche“) folgten, die in ihren gesellschaftskritischen Liedern zum ersten Mal auch auf Deutsch sangen und damit sowohl die migrantische als auch die deutsche Popkultur prägten. HipHop wurde zum Sprachrohr der zweiten und dritten Generation von Menschen, die in Deutschland aufgewachsen waren. So wurden Pioniere wie Fresh Familee, King Size Terror oder Islamic Force zu Wegbereitern der zeitgenössischen Pop-Musik in Deutschland.
Auch die Distributionswege veränderten sich. Der Branchenführer Türkiola aus Köln, der rund 500 Künstler vertrat, vertrieb jährlich 1 Million Musikkassetten direkt über Import-Export-Läden, Gemüsehändler und andere türkische Geschäfte. Deutsche Plattenläden führten dagegen türkische Musik nicht. Die auf die Energiekrise der 1970er Jahre folgende Rezession führte zu einem Einschnitt: Musiker wie Cem Karaca unterstützten „wilde“ Streiks für gleichen Lohn und gleiche Sozialleistungen etwa im Krankheitsfall. Die „Gastarbeiter“ wurden von der deutschen Öffentlichkeit erstmals als Bürger wahrgenommen, Rudi Carrell und Alfred Biolek streichen in ihren populären TV-Shows deren enormen Beitrag zum deutschen Wohlstand heraus und die Theater spielen „Ab in den Orientexpress“ und „Kanaken“.
In den 1980er Jahren wird Deutschland endgültig zum Einwanderungsland. Es gibt nun große Hochzeitshallen und, etwa im Berliner U-Bahnhof Bülowstraße, eigenständige Auftrittsmöglichkeiten für türkische Musiker. Die inzwischen sehr flexibel sein müssen bei steigender Nachfrage auch von arabischer und kurdischer Musik. Heimat oder fremdes Land? Immer mehr Künstler singen auf Deutsch wie Tümay Koyuncuoğlu, Erci Ergün aka Erci E., Kabus Kerim, der Rapper Boe B. und die Rapperin Nellie. Nicht nur in Eventhallen, sondern auch Open Air etwa in der Berliner Hasenheide.
Diese beispiellose Geschichte einer selbständigen Musikkultur der Einwanderer aus der Türkei, ihrer Kinder und Enkelkinder in Deutschland, erzählt der so unterhaltende wie spannende Dokumentarfilm „Aşk Mark ve Ölüm“, der die Gespräche mit Musikern, Veranstaltern, Musik- und Videokassettensammlern mit noch nie gesehenem Archivmaterial bereichert. Der Filmtitel ist inspiriert vom gleichnamigen Gedicht des Autors Aras Ören, welches 1982 von der Band „Ideal“ vertont wurde.
Pitt Herrmann