Inhalt
Die 39-jährige Philosophiedoktorandin Clara lebt in einer Kreuzberger WG, ihre Teenager-Tochter wohnt bei ihrem Ex. Clara hat ein heimliches Verhältnis mit einem ihrer Studierenden. Beruflich bestärkt und betreut wird sie von ihrer souveränen Doktormutter Margot. Als Clara zum Geburtstag ihrer Mutter die mecklenburgische Provinz besucht, aus der sie stammt, hat sie mit dem Stolz, den Erwartungshaltungen, aber auch mit der Ablehnung der Familie und ehemaliger Weggefährten zu kämpfen. Ihr wird bewusst, wie weit sie sich auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben von ihren Wurzeln entfernt hat. Und vielleicht entfernen musste. Denn Heimatgefühl kann sich ändern.
Annika Pinskes leises Drama studiert Vertrautheit und Fremdeln, Libertät und Zwang, Provinz und Stadt. Durch sensibles Spiel mit vielen Zwischentönen macht ein herausragender, dialektfester Cast sowohl die Atmosphäre im universitären Umfeld Berlins als auch die auf der ländlichen Familienfeier erlebbar.
Quelle: 72. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Auf der Abschiedsfete ihres Lehrstuhlinhabers Prof. Gerd Brandis, der kurz vor seiner Emeritierung steht, ist Clara die einzige Akademikerin aus den neuen Bundesländern und erfindet rasch einen Diplomaten-Vater, der sich nach dem Zusammenbruch der DDR erschossen hat, und eine Hausfrau-Mutter, um sich weiterer Nachfragen im Kollegenkreis zu entziehen. Es besteht überhaupt kein Grund, die eigene Herkunft zu verbergen, aber Clara ist der ständigen Nachfragerei überdrüssig.
Zum 60. Geburtstag ihrer Mutter Inge, die in Wirklichkeit stets berufstätig gewesen, seit der Wende aber ohne Arbeit ist, besucht Clara nach vielen Jahren wieder ihren kleinen Heimatort. Zusammen mit ihrer 15-jährigen Tochter Emma, die weiterhin im Elternhaus lebt zusammen mit ihrem Vater Roland und dessen junger Gattin Pia (Lisa Flachmeyer). Zurück also zu den Wurzeln, zu den Großeltern Hans und Charlotte, zu ihren Freundinnen von einst wie Heidi und Julia.
Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, etwa in der Dorfkneipe, vor der Inges runder Geburtstag gefeiert wird. Den Billardtisch, auf dem sie einst Sex mit dem Wirtssohn hatte, gibt’s immer noch – und den Sohn auch noch, aber der ist jetzt mit Kathleen verheiratet. Und Inges Nachbar Klaus hat, vor seiner Garage sitzend, immer noch alles im Blick. Aber die entsprechend tätowierte Dorfjugend hört Rechts-Rock der Marke „Deutschland erwache!“ und knattert mit getunten Schlitten durch die blühenden Landschaften.
Clara, die sich erfolgreich sowohl von den gesellschaftlichen Erwartungen als Frau und Mutter als auch von ihrem provinziellen Herkunftsmilieu emanzipiert hat, stellt ihr freies, selbstbestimmtes Leben zunehmend in Frage. Nicht nur, dass sie in der Berliner Uni-Blase ihre Mutter verleugnet hat und nun mit ihr so schwer ins Gespräch kommt wie mit ihrer Tochter Emma. Sondern sie erfährt schmerzhaft, dass die Entfremdung von der eigenen Familie und einstiger Jugendfreunde einer Entwurzelung gleichkommt, die von ihrem beruflichen und sozialen Aufstieg in der Hauptstadt nicht kompensiert werden kann. In der Schlusseinstellung sitzt die gesamte Patchwork-Familie im Auditorium, als Emma im Jugendorchester-Konzert die Tuba bläst.
In ihrem von der „Leuchtstoff“-Initiative des RBB geförderten Langfilmdebut „Alle reden übers Wetter“, erzählt die Brandenburgerin Annika Pinske von Heimat- und Identitätsverlust in durchaus pointierten Dialogen nicht ohne Humor und (Selbst-) Ironie. Ihr 89-minütiger Abschlussfilm an der Berliner Film- und Fernsehakademie dffb punktet mit genauen zwischenmenschlichen Beobachtungen, verzettelt sich aber immer wieder in Randgeschichten, die nur kurz angetippt und dann nicht weitererzählt werden. Wie die der Gastreferentin Hanna von der Universität Greifswald: Sie hat vor zwanzig Jahren in Erlangen bei Claras Doktormutter Margot studiert und beschimpft diese bei einer zufälligen Begegnung in der Berliner Universität auf übelste Weise.
Annika Pinske im Grandfilm-Presseheft: „Es gibt ein Gefühl der Unsicherheit bei Clara, das mit ihrem sozialen Status, ihrem Geschlecht und ihrer Herkunft zusammenhängt. Vielleicht muss ich an dieser Stelle von mir selbst sprechen, denn diese Erfahrung teile ich mit meiner Protagonistin. Ich würde sagen, dass ich erst durch den Kontakt mit Westdeutschen Ostdeutsche geworden bin. Vorher war es mir völlig egal, aber sobald ich Frankfurt/Oder, meine Heimatstadt an der deutsch-polnischen Grenze, verließ, musste ich ständig erklären, woher ich komme. Plötzlich wurde ich mit allen möglichen Stereotypen über Ostdeutsche konfrontiert– immer als Kompliment verpackt, denn ich wurde überhaupt nicht als Ostdeutsche gesehen. Als Reaktion darauf habe ich mich gefragt, wie sich Westdeutsche jemanden aus dem Osten vorstellen, was einen verunsichern und vereinnahmen kann.“
Pitt Herrmann