Die Geschichte vom weinenden Kamel
Die Geschichte vom weinenden Kamel
Andrea Dittgen, film-dienst, Nr. 1, 01.01.2004
Es ist lange her, dass in Deutschland Filme über die Mongolei ins Kino kamen. 1989 entführte "Johanna d"Arc of Mongolia" (fd 27 505) von Ulrike Ottinger fast drei Stunden lang in diese fremde Welt, in der sich märchenhafte westliche Vorstellungen mit dem kargen Leben der Nomaden mischen. Was bei Ottinger nicht richtig funktionierte, weil sie auf Exotismus und exaltierte Schauspieler setzte, gelang Nikita Michalkow mit "Urga" (fd 29 251): einen mitreißenden Film über die Zivilisation zu drehen, die immer stärker das Leben der Nomaden bestimmt und ihre Traditionen zerstört. Wo in "Urga" ein zerstörter Fernseher das Ende markiert, setzen "Der Geschichte von weinenden Kamel" zwölf Jahre später an: bei begeisterten Nomanden vor einem Satelliten-TV. Der neue Film über die Mongolei ist allerdings kein reiner Spielfilm, sondern eines jenes faszinierenden Zwitterwesen, bei denen man vergisst, wo das Dokumentarische endet und das Inszenierte beginnt, ähnlich wie in Flahertys Klassikern "Nanuk, der Eskimo" (fd 2051) oder "Männer von Aran" (fd 11 362). Diesmal gelingt dies zwei Absolventen der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen mit einer einfachen und doch komplexen Geschichte über Menschen und Tieren in der Mongolei. Der Grund könnte darin liegen, dass einer der beiden von dort kommt. Wie viele ihrer Landsleute hatte die heute 32-jährige Byambasuren Davaa als Kind jenen in der Mongolei berühmten Fernsehfilm über ein weinendes Kamel gesehen, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Dort bekam das Tier ganz glasige Augen, wenn es die eigentümlich schwebende Musik eines Saiteninstruments hörte, sodass es aussah, als ob das Tier weinte. Doch bis sich die Nomadenfamilie, die mit ihrer Kamelherde irgendwo in der Wüste Gobi lebt, in die weit entfernte Stadt aufmacht, um mit Hilfe eines Musikers auch ihr störrisches Kamel zu Tränen zu rühren, sind die Zuschauer schon mittendrin in einer bewegenden, dem Untergang geweihten Welt zwischen Tradition und Moderne. Helle Bilder von einer Landschaft mit spärlicher Vegetation, erfreulicherweise ohne Off-Kommentierung und nur wenigen Dialogen, lassen Zeit, um Menschen und Tiere in ihrem langsamen Lebensrhythmus kennen zu lernen. Eine Idylle, in der mehrere Generationen zusammen leben, kochen, essen, wo die Kinder spielen und alle sich um die Tiere wie um Familienmitglieder kümmern. Manchmal erzählt der alte Mann Geschichten, etwa die, wie das Kamel, das früher ein Geweih hatte, dieses einem Hirsch lieh, aber nie wieder zurückbekam, weshalb noch heute alle Kamele sehnsüchtig über die weite Landschaft schauen in Erwartung des Geweihs. Doch während das Kamel in der Geschichte geduldig ist, gibt sich die Mutter des jüngsten Kamels der Herde bockig. Nach der strapaziösen Geburt will sie ihrem Jungen keine Milch geben. Doch weder gutes Zureden noch das permanente Schubsen des Nachwuchses an die Zitzen helfen. Weil das nicht ewig so weitergehen kann, werden zwei Söhne losgeschickt, um in der Stadt einen für seine Heilkünste bekannten Musiker aufzusuchen. Der soll das Kamel in einen tranceähnlichen Zustand versetzt, in dem es so mild und gefühlduselig wird, dass es sein Junges annimmt.
Auch der italienische Co-Regisseur und Kameramann Luigi Falorni nimmt sich zwischendurch viel Zeit, um das Leben der städtischen Mongolen zu zeigen, das vielleicht nicht ganz so hektisch ist wie in anderen asiatischen Großstädten, aber viele Verlockungen bietet. "Die Geschichte vom weinenden Kamel" beschreibt die Fürsorge der Menschen für sich und ihre Tiere quasi als das letzte Ritual der alten Welt. Weil man nie den Eindruck hat, dass die Familienmitglieder Rollen spielen oder dass die Tiere trainiert sind, wirkt dieser fremde Alltag so glaubwürdig – und auch seine Bedrohung. Dass allein ein Musiker mit einer "städtischen" Ausbildung den archaisch lebenden Nomaden helfen kann, ist nicht nur ein Zeichen dafür, wie die westliche Zivilisation immer stärker in das Leben auf dem Land eingreift, sondern auch ein Eingeständnis, dass die Tradition ohne die Moderne nicht überleben kann, wenn sie denn überhaupt eine Zukunft hat. Denn bei aller Märchenhaftigkeit und Magie des Ursprünglichen verschweigt der Film keineswegs, dass es immer mehr junge Leute in die Stadt zieht, wo sie dann allerdings mit ähnlichen Probleme wie im Westen konfrontiert werden.