Das weisse Rauschen
Das weiße Rauschen
Josef Lederle, film-dienst, Nr. 3, 29.01.2002
„Das weisse Rauschen, das sind alle Visionen, aller Menschen, aller Zeiten, in einem Augenblick“, hört man vor dem Abspann den Hauptdarsteller Daniel Brühl sagen: „Wer das weisse Rauschen sieht, wird sofort wahnsinnig. Außer wenn er schon wahnsinnig ist. Dann wird er normal“. Dass dem Zuschauer weder das eine oder das andere droht, liegt an der Eigenart von Hans Weingartens Debütfilm, den man durchaus als gelungenes Pendant zu Thomas Vinterbergs „Das Fest“ (fd 33 486) auffassen könnte. Beide bedienen sich der „Dogma“-Ästhetik, um eine psychischen Wirklichkeit physisch erfahrbar zu machen: familiäre Verdrängungsstrukturen hinter sexuellem Missbrauch bei Vinterberg, paranoide Schizophrenie im Fall von Hans Weingarten.
Was nach Psychiatrie und weißen Mänteln klingt, beginnt auf einer Wiese im Bergischen Land, mit einem psychedelischen Drogentrip, aus dem die Hauptfigur Lukas nicht mehr in die Alltäglichkeit zurückfindet. Die Welt scheint sich um ihn zu drehen, oder dreht er sich um die Welt? Auf der Leinwand und in der Rezeption des Zuschauers zerbricht die Einheit der Wahrnehmung in disparate, aber nur leicht verschobene Teile; Handkamera und Jump Cuts verstärken den Eindruck latenter Desorientierung, der wieder abklingt, als in einer langen Rückblende die Vorgeschichte entfaltet wird.
Lukas ist 21, sympathisch, introvertiert und auf dem Weg in die Großstadt. Seine Schwester lebt in Köln, wo er studieren will. Sie und ihr Freund nehmen ihn in die WG auf; alles scheint bestens; auf einer Fete lernt Lukas sogar ein junge Frau kennen, mit der er tags darauf ins Kino will. Weil dort aber nicht wie erwartet „Taxi Driver“ läuft, rastet Lukas aus; die Frau läuft entsetzt davon. Der latente Druck, der auf Lukas’ Schultern zu lasten scheint, schlägt nach dem Drogentrip in handfeste Realität um: in seiner Wahrnehmung zieht seine Schwester extrem abfällig über ihn her; fremde Stimmen, deren Herkunft sich nicht eruieren lässt, malträtieren ihn mit Anzüglichkeiten, die ganze Welt scheint sich gegen ihn verschworen zu haben. Der einzige Ort, um sich den hässlichen Triaden zu entziehen, ist die Dusche; stundenlang lässt er dort das Wasser über sich rauschen.
Man kann diese nasse Wohltat, endlich hinter einem akustisch Vorhang abtauchen zu können, auch deshalb so gut nachvollziehen, weil der völlig irreführend als „Psychothriller der besonderen Art“ etikettierte Film neben seiner ausgeklügelten optischen Ebene große Sorgfalt auf die Tonebene verwendet. Das Stimmengewitter bricht mit solch elementarer Macht und Tücke über den linkischen Einzelgänger herein, dass dessen immer verzweifeltere Versuche, den Beleidigungen Einhalt zu gebieten, bis zum Sprung aus dem Fenster eine wachsende Evidenz besitzen. Jetzt erst registriert die Umwelt den Grad seiner Verwirrung; aus Lukas wird der Bruder in der Klapse, den man befreien muss; familiäre Hintergründe werden eruiert, Schuldgefühle und Ratlosigkeit greifen um sich. Als Lukas wieder entlassen wird, muss er Psychopharmaka schlucken, die seine emotionale Wahrnehmung dämpfen. Er findet sogar Arbeit in einer Fabrik für Schaufensterpuppen, ein Neufang scheint möglich. Doch dann kippt er die Tranquillizer ins Klo; ein neuer, wenn auch gemäßigterer Schub lässt nicht lange auf sich warten. Wieder soll ein Sprung, diesmal von der Rheinbrücke, der Verwirrung ein Ende setzen.
Bis dahin entfaltet der Film seine Leidensgeschichte so stringent wie bezwingend, was neben der formalen Fertigkeit auch den hervorragenden Schauspielern, allen voran Daniel Brühl, zu verdanken ist, die sich auf ein riskantes Unterfangen eingelassen haben. Weingarten und seine beiden Co-„Autoren“ Toby Amann und Matthias Schellenberg filmten gleichzeitig mit drei DV-Kameras; die sechswöchigen Dreharbeiten entwickelten sich zu einer Art Encounter, weil es nur ein Treatment mit 99 Szenen und entsprechend viel Raum für Improvisationen und kreative Weiterentwicklung gab. Von den Darstellern wie dem technischen Team verlangt dies ein hohes Maß an Identifikation und Engagement, was der rauen filmischen Oberfläche erst jene Authentizität sichert, aus der im Schnittcomputer ein „wahrhaftigeres Bild der Krankheit“ entstehen kann, um das es Weingartner ging.
„Das weisse Rauschen“ demonstriert aufs Neue, dass der grobkörnige, unruhige „Dogma“-Stil sich insbesondere dort anbietet, wo extreme emotionale Befindlichkeiten als filmbildlicher Zustand erfahrbar gemacht werden sollen. Doch obwohl gerade der dritte Teil des Films, Lukas’ „Auferstehung“ innerhalb einer Hippie-Kommune, die große Sorgfalt des „Drehbuchs“ erahnen lässt, in das neben narrativer Sensibilität auch profunde medizinischen Kenntnissen und Erfahrungen Betroffener eingeflossen sind, wirkt die „Lösung“ zumindest weniger stringent als die Entfaltung der „Krankheit“. Weingartens komplexe Zustandsbeschreibung verweigert sich zwar einer laienhaften Psychologisierung, kommt aber trotzdem nicht umhin, dramaturgische Kompositionsfäden zu exponieren, deren Klischeehaltigkeit durch die Raffung des Handlung eingedämmt werden soll.
So findet Lukas bei den Hippies beispielsweise endlich jenen Familienanschluss, nach dem er sich insgeheim tief sehnt, und spiegelt sich in einem namensgleichen Kind die Möglichkeit einer unbeschwerten Existenz. Eine Hoffnung auf Gesundung zeichnet sich ab, bis Geld in der Gemeinschaftskasse fehlt und Lukas sich plötzlich wieder von allen verdächtigt fühlt. „Game over“, malt er trotzig in den Sand, und bleibt allein zurück, als die anderen weiterziehen.
Sein Monolog über das weisse Rauschen wirft zwar ein neues Licht auf alles Bisherige, unterstreicht allerdings auch manche Unstimmigkeit, die vielleicht auch daraus resultiert, dass die erste Fassung rund drei Stunden betragen hat. Der außergewöhnlichen Leistung tut dies jedoch keine Abbruch, weil die suggestive Bildsprache und die extreme Präsenz von Daniel Brühl diese Begegnung mit einem „abnormen“ Verhalten zu einer hochspannenden, ebenso anregenden wie lehrreichen Angelegenheit machen.