Papageno und Papagena. Scenen aus Mozarts "Zauberflöte". Kleine Oper in einem Akt
Das zweite Tonfilmprogramm der Tri-Ergon 1923/24
Seit 1918 forschten die Ingenieure Joseph Massolle und Hans Vogt sowie der Physiker Jo Engl an der Weiterentwicklung des Lichttonfilms. Die drei Erfinder nannten sich "Tri-Ergon" (griechisch für "Das Werk der Drei"), ihre "sprechenden Filme" sind als Tri-Ergon-Filme in die Geschichte eingegangen. Am 17. September 1922 hatten sie im Kino Alhambra am Kurfürstendamm in Berlin ihre ersten Tonfilme aufgeführt – eine viel beachtete, aber noch mit technischen Problemen behaftete Vorführung. Da die Filmindustrie zurückhaltend reagierte, verkauften die Erfinder ihre zahlreichen Patente an ein Schweizer Konsortium um den Rechtsanwalt Arthur Curti. So konnten sie, mitten in der Inflation, mit harten Schweizer Franken weiterarbeiten. Sie verbesserten ihre Apparaturen und nahmen neue Tonfilme auf, die sie rund ein Jahr später präsentierten.
Ab 1923 firmierte die Erfindergruppe als "Tri-Ergon (Sprechender Film)" und mietete sich in das Zahnärztehaus in der Berliner Bülowstraße 104, nahe Nollendorfplatz, ein. Dort bauten sie den Schubert-Saal zu einem schalldichten Atelier um. In einem kleineren Saal entstand ein Vorführungsraum und in den Küchenräumen eine Kopierstrecke. Rund 50 Mitarbeiter belichteten täglich an die 50 Meter Tonfilm. Das künstlerische Team bestand ausweislich einer Anzeige in der LichtBildBühne (19.1.1924) aus dem Regisseur Walter Doerry, dem Architekten Bernhard Schwidewski, den Kameramännern Paul Holzki, Marius Holdt, K. Paulmann [vermutlich: Friedrich Paulmann] und Guido Seeber sowie den Dirigenten Giuseppe Becce und Kurt Fischer.
Quelle: Filmuseum Potsdam |
Der 42mm breite Tri-Ergon-Tonfilm mit außenliegender Tonspur |
Die Pressevorführung
Am 24. September 1923 stellte Tri-Ergon ihr neues Programm den Mitgliedern des Vereins "Berliner Presse" vor; anwesend waren auch der Geldgeber Curti sowie Prof. Walter Nernst, Präsident der physikalisch-technischen Reichsanstalt. Auf die technischen Details des Lichttons kann hier nicht eingegangen werden. Es sei nur so viel erwähnt, dass Tri-Ergon das Bildformat des 35mm-Films beibehielt und den Lichttonstreifen außerhalb der Perforation anbrachte, wodurch eine neue Bildbreite von 42mm entstand. Als Vorführgeschwindigkeit wählten sie 20 Bilder pro Sekunde.
Das Programm der Pressevorführung bestand aus fünf Teilen. Den Anfang machte eine gefilmte Ansprache des Regisseurs Walter Doerry. Er begrüßte die Anwesenden im Namen der drei Erfinder und schilderte "in einem Vortrag, der in jedem Winkel des Vorführungsraumes so klar verständlich war, als spräche ein lebendiger Mensch selbst zu der Versammlung, das Wesen und die Aussichten der Erfindung." (Dortmunder Zeitung, 16.11.1923) Es folgten ein "Tri-Ergon-Film-Varieté", Darbietungen des Universal-Instrumental-Virtuosen Reka [Paul Kaiser-Reka] sowie die Zusammenstellung "Tri-Ergon-Kammerkunst" mit Rezitation, Vortrag und einem Lied.
Den Abschluss der Vorführung bildete ein Fernkonzert. Ein Violinkonzert wurde sowohl von Schallplatte und mittels der Tonfilmapparatur über eine elektrische Leitung aus einem Nebenraum übertragen. Die Wiedergabe nach Tri-Ergon erwies sich "als mit dem natürlichen Klang unvergleichlich übereinstimmender", wie die Zeitschrift Die Photographische Industrie vom 17. Oktober 1923 anerkennend notierte.
Die Tournee
Anfang 1924 stellte Tri-Ergon die bei der Pressevorstellung gezeigten Filme neu zusammen und ergänzte sie durch weitere Aufnahmen. Am 9. Januar 1924 lagen der Berliner Filmprüfstelle vier Tri-Ergon-Tonfilme vor, die sie zur öffentlichen Vorführung, auch vor Jugendlichen, freigab. Mit diesem Programm bereisten drei Vorführungskolonnen das Rheinland, Schlesien und Mitteldeutschland. Massolle erwähnte später rund 1000 Vorführungen in 100 Städten.
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Pressevorführung von Tri-Ergon am 24. September 1923 in Berliner Schubert-Saal |
Das dreiaktige "Tri-Ergon-Film-Varieté" (1145 m = 50‘13“) erhielt im Vergleich zur Pressevorführung einige neue Beiträge. Die Zulassungskarte B 8007 vom 9. Januar 1924 der Filmprüfstelle dokumentiert die Szenenfolge. Auf einen Balalaika-Spieler, einen Kunstpfeifer und einen Tierstimmen-Imitator folgten "musikalische Scherenschleifer, Seemanns-Klavier und Negertanz auf Glasscherben." Musikalische Scherze, "der böse Brummer", ein Step-Tänzer, das russische Duett "Wanka-Tanka" und ein Zitherspieler beschlossen den 1. Akt. Mit dieser Zusammenstellung orientierte sich Tri-Ergon sowohl am Nummernprogramm des frühen Kinos als auch an der abwechslungsreichen Szenenfolge der Varieté-Theater. Es ging hier nicht darum, ästhetisch neue Elemente vorzustellen, sondern die Güte der Tonwiedergabe zu demonstrieren.
Das Duett "Wanka-Tanka" erinnerte einen Beobachter an den Stil des berühmten russischen Kleinkunst-Ensembles "Blauer Vogel". (Der Bund, 6.12.1923) Beim Scherbentanz ging vermutlich kein Glas, sondern ein irdenes Gefäß zu Bruch. Ein schwarzer Darsteller tanzte barfüßig zu "dumpfen Trommelschlag" auf den Scherben, ohne seine lederartigen Sohlen zu verletzen, wie es in einem Bericht des Niederösterreichischen Grenzboten vom 4. November 1923 heißt. Die "Exotik" des Scherbentanzes stellte das angeblich "Primitive" zur Schau und reduzierte die schwarzen, nur spärlich bekleideten Darsteller auf das Unheimlich-Fremde, hier noch verstärkt durch den Gruselfaktor der Darbietung. Bei dem "Bösen Brummer" könnte es sich um die Kinderballade der russischen Sängerin Dawidowa gehandelt haben, die im Programm der Pressevorstellung noch gesondert angeführt wurde.
Quelle: Die Koralle, Nr. 42, 24.10.1937 |
Tonfilmaufnahme des Scherbentanzes |
Im 2. Akt des "Film-Varieté" spielte der Universal-Instrumental-Virtuose Reka in verschiedenen Kostümen rund ein Dutzend Instrumente wie Monokord, Nadelgeige, Kniegeige (Euphonium), Xylophon und Metallophon, wie die Velberter Zeitung (1.12.1923) aufzählt. In der Maske Friedrichs des Großen gab er zudem ein "Flötensolo in Sanssouci" zum Besten. (Münstersche Zeitung, 27.1.1924)
Der 3. Akt richtete sich an ein eher kunstsinniges Publikum. Folgt man dem Programm der Pressevorführung und den Angaben auf der Zensurkarte, dürfte er folgende Szenen enthalten haben: Das populäre Hobellied aus dem Wiener Volksstück "Der Verschwender", die Arie der Susanne aus "Figaros Hochzeit", die von dem österreichischen Schauspieler Adolf Klein gesprochene, für religiöse Toleranz plädierende "Ring-Erzählung" aus Lessings "Nathan der Weise", eine von Anton Hekking gespielte Arie für Violoncello von Haendel. Schließlich rezitierte Arthur Curti Goethes "Wandrers Nachtlied" auf Italienisch und Deutsch.
Ein Beobachter der Pressevorführung notierte noch die Ansprache eines amerikanischen Wanderredners, der "in nasalem Englisch" über den "verblüffenden Eindruck", den die Erfindung auf ihn gemacht hatte, gesprochen habe. (Der Bund, 9.10.1923). Zum Schluss erschien der Veranstalter (einer anderer Quelle zufolge war es der Regisseur) auf der Leinwand, "öffnet den Mund und dankt den Gästen für ihre Aufmerksamkeit." (BVZ, 25.9.1923, DAZ, 25.9.1923)
Quelle: DFF |
Aufnahme einer russischen Ballade. Links die schalldicht verkleidete Kamera, rechts die Tonaufnahme |
Die ländliche Idylle "Ein Tag auf dem Bauernhof" (440 m = 19‘18“) hatte sich Hans Vogt in Erinnerung an seine Jugend im dörflichen Wurlitz (heute ein Stadtteil von Rehau) ausgedacht. Der Querschnitt durch das Landleben galt als das "Paradestück" des Programms, in dem sich die Erfinder "akustisch austoben" konnten, wie sich der Tri-Ergon-Mitarbeiter Karl Brodmerkel 1952 erinnerte.
Um die Jahreswende 1923/24 hatte Tri-Ergon noch zwei weitere Kurzfilme aufgenommen. "Papageno und Papagena" enthielt Szenen aus Mozarts "Zauberflöte" (330 m = 14‘28“). Die Solisten dieser "kleinen Oper in einem Akt" – so der Untertitel – kamen von der Berliner Staatsoper. In dem Dokumentarfilm "Ein Blick hinter die Kulissen" (123 m = 5‘24“) baten die Erfinder eine Sängerin, vor das Mikrophon zu treten und ein Lied anzustimmen; dann erklärten sie in einfachen Worten ihre Erfindung. (Tagespost, 23.1.1924)
Die Uraufführung des zweiten Tri-Ergon-Programms fand am 17. Januar im Berliner "Marmorhaus" unter dem Motto "Der sprechende Film beginnt seinen Siegeszug durch die Welt!" statt. Dem war allerdings nicht so, und es dauerte noch einige Jahre, ehe die industrielle Auswertung des Lichttonfilms begann. Mit den Einnahmen aus dieser Tournee konnte sich Tri-Ergon immerhin selbst finanzieren. Erstaunlich war, so erinnerte sich Vogt 1934, dass es bei den reisenden Kolonnen nur selten Probleme gab, obschon diese "infolge ihres dauernden Standortwechsels und den noch reichlich unerprobten Apparaturen unter den schwierigsten Bedingungen arbeiten mussten."
Das Dorf-Idyll
Während fast alle Programmteile dazu dienten, die Qualität der Tonwiedergabe zu beweisen, wollte Tri-Ergon mit "Ein Tag auf dem Bauernhof" auch die Eignung des "sprechenden Films" für den Spielfilm demonstrieren. Es ist der einzige Film des Programms, der, wenn auch nur als längeres Fragment, erhalten ist.
In "Ein Tag auf dem Bauernhof" gibt es Glockengeläut und zahlreiche Tierstimmen, johlende Kinder, Dialoge einer Bäuerin, Ansagen eines Herolds und eines Nachtwächters; Musikanten spielen auf und ein Wanderbursch singt ein Volkslied. Diese Darstellung eines biedermeierlich-idealisierten Landlebens passte allerdings nicht in das damalige Themenspektrum des Kinos. Der Film war zudem in seiner an frühe Tonbilder gemahnende Ästhetik mit einer einzigen langen Einstellung weit vom damaligen Entwicklungsstand der Filmkunst entfernt. Die Eintönigkeit der starren Einstellungen versuchte der Regisseure Doerry durch unterschiedliche Einstellungsgrößen wettzumachen. Es blieb aber bei dem Widerspruch, dass die damals modernste Filmtechnik mit dem Bild einer längst hinfällig gewordenen ländlichen "Idylle" auf sich aufmerksam machte.
Quelle: Volksstimme, Magdeburg, Nr. 62, 13.3.1924 |
Mitte März 1924 gastierte der "sprechende Film" auch in Magdeburg |
"Ein Tag auf dem Bauernhof" enthält aber auch Szenen, die bereits Elemente einer neuen Tonfilmästhetik andeuten. Während die Musiker den Dorfplatz verlassen und ihre Musik abklingt, beginnt eine Magd mit einem Holzfass zu buttern. Das Schlagen des Stößers mischt sich in das Abklingen der Musik, so dass der Effekt einer Überblendung entsteht. Beim Gesang des Wanderburschen gibt es Zwischenschnitte auf die Bäuerin und ihre Tochter, die versonnen zuhören, während das Lied weiterhin, nun aus dem Off, zu hören ist. Mit der Nahaufnahme eines krähenden Hahns gelingt zudem eine erste Tonnahaufnahme. Erwähnenswert ist auch die Überlagerung von Geräuschen, wie Tierstimmen und Glockengeläut, die der akustischen Ebene Realismus und Tiefe verleiht.
Die Skepsis
1923 erkannte kaum jemand die Bedeutung der Erfindung für den Spielfilm; man sah den Tonfilm vor allem als Ersatz für die in vielen Kinos angebotenen Bühnenschauen, für Singspiele und Kurzfilme im Beiprogramm. Häufig wurde er auch für das marginale Feld des wissenschaftlichen Films und des Lehrfilms vorgeschlagen. Anwendungsmöglichkeiten sah man zudem in der wissenschaftlichen Forschung etwa in der Akustik, der Medizin und für ethnographische Forschungen bei "Naturvölkern", bei Volksliedern und Tänzen. Vorstellen konnte man sich seinen Einsatz auch im Bereich der Archivierung. Andere dachten an Tonfilme als ein Mittel der Wahlwerbung. Wiederum andere stellten sich die Aufnahme der Werke der großen Dramatiker und deren Verbreitung bis in die kleinsten Dörfer vor.
Am stummen Filmdrama wollten die wenigsten etwas ändern, "weil die Stärke des lebenden Bildes, besonders des Kinodramas, in den unbegrenzten optischen Möglichkeiten liegt, die sich meist schwer mit der Sprache vereinigen lassen." Der Tri-Ergon-Film müsse sich deshalb erst "seine neue Art, seine eigene Dramaturgie, seinen eigenen kombinierten Stil" schaffen, meinte das Fachblatt Der Kinematograph vom 7. Oktober 1923. Im Film-Kurier führte Walter Bloem, Autor der Abhandlung "Seele des Lichtspiels – Ein Bekenntnis zum Film" (1922) aus, die Einführung des Tonfilms ziehe das Umkrempeln der gesamten auf den stummen Film abgestellten Filmindustrie nach sich; auch Regie und Darsteller müssten ganz von vorne beginnen. Er verwies auf die bis dahin erreichte Kunst der Montage – "Beim stummen Film dichtet die Schere" – und bezweifelte, dass der tönende Film vergleichbare Techniken entwickeln könne, um lange und starre Einstellungen zu vermeiden. (6.2.1924)
Einer der wenigen, der 1924 das weitgehende Ende des stummen Films vorhersah, war der Ingenieur und Schriftsteller Artur Fürst. Mit dem Tonfilm kehre das Drama zu seiner natürlichen Darstellungsart zurück; der ausgereifte sprechende Film werde ein "Erzieher zur wahren Kunst" in einer bisher nicht gekannten Größe werden. (Arbeiter-Zeitung, Wien, 3.11.1923)
(September 2023)
Zitierte Literatur
Julius Bab: Der sprechende Film. In: Berliner Volks-Zeitung (BVZ), Nr. 450, 25.9.1923
J.L.: Der Film spricht. Ein Triumph deutscher Technik. In: Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ), Nr. 444, 25.9.1923
Aros: Der sprechende Film. Das neueste Programm der Tri-Ergon-Gesellschaft. In: Der Kinematograph, Nr. 867/868, 7.10.1923
Der sprechende Film. In: Der Bund, Nr. 429, 9.10.1923
Das Tonbildfilmverfahren. In: Die Photographische Industrie, Nr. 41/42, 17.10.1923
Arthur Fürst: Der sprechende Film. In: Arbeiter-Zeitung, Wien, Nr. 302, 3.11.1923
Willy Möbius: Der sprechende Film. In: Niederösterreichischer Grenzbote, Nr. 44, 4.11.1923
Arthur Bagemühl: Der sprechende Film. In: Dortmunder Zeitung, Nr. 288, 16.11.1923
Friedrich Düsel: Der sprechende Film. In: Velberter Zeitung, Nr. 282, 1.12.1923
Berner Kinoschau. Der sprechende Film. In: Der Bund, Nr. 522, 6.12.1923
Der sprechende Film. In: LichtBildBühne, Nr. 5, 19.1.1924, S. 5 (Anzeige)
Der sprechende Film. In: Münstersche Zeitung, Nr. 27, 29.1.1924 (Inserat)
Der sprechende Film. In: Tagespost, Linz, Nr. 19, 23.1.1924
Walter Bloem: In: Die Aussichten des tönenden Films. 1. Teil. Film-Kurier, Nr. 31, 5.2.1924
Walter Bloem: In: Die Aussichten des tönenden Films. 2. Teil. Film-Kurier, Nr. 32, 6.2.1924
Alfred Schneider: 10 Jahre deutscher Tonfilm. In: Filmtechnik, 16.9.1933, S. 209-211
Hans Vogt: Das Werk der Drei. In: Filmtechnik, Nr. 8, 21.4.1934, S. 89-93
Karl Brodmerkel: Die Geschichte Triergons“. 4. Fortsetzung. In: Bild und Ton, Nr. 11, 1952, S. 343-345
Joseph Massolle: Von den Tri-Ergon-Wandervorführungen... Undat. Typoskript. (Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen / Schriftgutarchiv / N 889_Fi)
Für Hinweise danke ich Ralf Forster, Tobias Nagl, Adrian Roßner und ullstein bild.