Summary
Family Idiots
Artist Heli is 40 years old and wants to start over. In the last few years she has been busy taking care of her 26-year-old sister Ginnie, who is mentally challenged even though this is not obvious at first glance. Their three brothers, Bruno (30), Tommie (32) and Frederik (42), were far too busy with themselves over the years to support Heli. When Heli needs more time for herself and her own needs, she decides to move Ginnie into a home. The brothers agree, but first want to visit Ginnie again. When the five siblings meet in an idyllic little cottage on the outskirts of Berlin, the family reunion is far less harmonious than expected. Ginnie is particularly capricious, which keeps everyone on their toes. In the increasingly chaotic and stressful mess, the estranged siblings come closer to each other in a surprising way.
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Deren geistige Behinderung ist ihr nicht anzusehen, und auf den ersten Blick schon gar nicht: Ginnie gießt Blumen in sorgsam gepflegten Hochbeeten im ansonsten arg verwilderten Garten, als der Besuch eintrifft. Dem sie sich zunächst im Unterholz versteckt entzieht, zumal sie gerade keine Lust auf Spaghetti hat, die Heli auftischt. Der stets mit einem lustigen Strohhut herumlaufende Jazz-Saxophonist und nicht wirklich erfolgreiche Bandmusiker Tommie, mit 30 Jahren der jüngste, lustigste und am meisten chaotische Bruder, steht Ginnie offenbar nicht nur altersmäßig am nächsten und holt sie an den Küchentisch.
Hausmusik stand auf der Tagesordnung, als die Eltern noch lebten. Die Geschwister sind scheinbar in einer intakten bürgerlichen, sich zum Christentum bekennenden Familie groß geworden. Sie haben viele Freiheiten genossen – und nehmen sie sich immer noch heraus. So auch der 32-jährige klugscheißende Gutmensch Bruno, der vor drei Jahren das Inselglück auf La Gomera einem lukrativen Job vorzog und der demnächst als Entwicklungshelfer nach Afrika gehen will, um in Mali Lehrer auszubilden. Nur der 42-jährige Klarinettist und Pianist Frederik ist, dem Vater nacheifernd, als klassischer Konzertmusiker geerdet, er kann dem notorisch finanziell klammen Tommie eventuell einen Job an der Komischen Oper in der Neuproduktion des Bernstein-Musicals „West Side Story“ besorgen.
Das Bruder-Trio erlebt das nur „Engelchen“ genannte Nesthäkchen der Familie als unberechenbares „Biest“ - und kommt sich in dem Durcheinander aus Kindheitserinnerungen und neu erlebter Gegenwart näher als erwartet. Was auch damit zu tun hat, dass nun Wahrheiten zu Tage gefördert werden, die stark am Bild der heilen Bürgerlichkeit kratzen. So wollte die Mutter Bruno ursprünglich abtreiben und sah Ginnies Behinderung als Strafe Gottes für ihre Untreue an. Und das Inselglück auf Gomera entpuppt sich als Aufenthalt in der Psychiatrie. Schließlich: Was wird aus dem Elternhaus, wenn Ginnie ins Heim kommt? Heli hat die letzten acht Jahre auf Sparflamme gelebt, will hier 'raus. Die Malerin träumt von sexuellen Abenteuern, die sich die nymphomanische Ginnie ganz selbstverständlich gönnt – und sei es im ungemütlichen Pferdeanhänger. Tommie bietet sich an, ins Elternhaus zu ziehen und sich um Ginnie zu kümmern, was Heli für keine gute Idee hält, weil sie ihm nicht genug Stressresistenz zutraut. Schließlich wird noch ein letztes Gruppenfoto geschossen, bevor Ginnie ins Heim abgeholt wird...
„Für eine solch vordergründig moralische Geschichte“, so Regisseur Michael Klier, „ist es besonders wichtig emotionale Grenzen zu überschreiten – und das ‚Idiotische‘ im Normalen und das Normale im ‚Idiotischen‘ aufzuzeigen. Im Kern geht es bei der Geschichte um die Frage nach Solidarität mit den Schwachen in einer überindividualisierten Gesellschaft.“ Uraufgeführt am 1. Juli 2018 auf dem Filmfest München, ist der innerhalb der ambitionierten Reihe „Leuchtstoff“ von RBB und Medienboard Berlin-Brandenburg entstandene Film erstmals am 18. November 2020 auf Arte im Free-TV zu sehen.
Das trotz toller Besetzung auch nervige Befindlichkeits-Kammerspiel um die „Opferung“ der behinderten Ginnie durch ihre vier Geschwister spannt einen Bogen, der über das Familiendrama hinausweist. Der 76-jährige Regisseur hat sich einem autobiographischen Stoff gewidmet: In einer vielköpfigen Familie aufgewachsen lebt eine geistig behinderte Schwester seit zehn Jahren im Heim. Kliers Blick geht aber darüber hinaus: „Erzählerisch ging es mir aber nicht nur um ein großes moralisches Dilemma, sondern um den destruktiven Egoismus und die lähmende Bequemlichkeit moderner westlicher Menschen.“
Pitt Herrmann