Inhalt
Sven leistet seinen Zivildienst in Polen in einem Jugendgästehaus, das zur Gedenkstätte des einstigen Vernichtungslagers Auschwitz gehört. In der Stadt Oświęcim – wie Auschwitz auf Polnisch heißt – ist nichts wie an anderen Orten, alles ist von der Geschichte überschattet. Zu Svens Aufgaben gehört auch, den Holocaust-Überlebenden Herrn Krzeminski zu betreuen. Der widerspenstige Krzeminski repariert für das Museum der Gedenkstätte alte Koffer, Relikte der ehemaligen Lagerhäftlinge. Sven lernt die Polin Ania kennen, die Führungen für die deutschen Besucher der Gedenkstätte macht. Die sich anbahnende Beziehung zwischen den beiden verändert Svens Blick auf seine Arbeit und das Leben in Oświęcim.
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Sven wird zunächst im Gästehaus einquartiert, wo außer ihm nur der alte Stanislaw Krzeminski wohnt. Der ehemalige KZ-Häftling hat sich bisher erfolgreich gegen alle Versuche auch seiner Schwester Zofia gewehrt, ihm das Leben angenehmer zu gestalten. Er bleibt stur an diesem Ort und arbeitet, wie schon sein ganzes Leben lang, an der Restaurierung der Koffer, die den Häftlingen vor ihrer Ermordung im Lager geraubt wurden.
Svens erste und für ihn völlig überraschende Begegnung mit Stanislaw hätte schlechter nicht laufen können: In Ermangelung einer trinkbaren Alternative hat er dessen ganzen Milchvorrat verbraucht. Auch seine anderen Erlebnisse in Oświęcim, einer betont „normalen“ Kleinstadt in der polnischen Provinz, die in ihrem Alltagsleben den Touristenmagnet Auschwitz am liebsten ausblendet, machen es Sven nicht gerade leicht.
Die ersten, vorsichtigen Annäherungsversuche an die junge, lebenslustige Touristenführerin und Dolmetscherin Ania drohen am Widerstand ihres Bruders Krzysztof zu scheitern, als sie Sven ein Zimmer in ihrer kleinen Wohnung vermietet, in dem bisher der arbeitslose, trunksüchtige Raufbold gelebt hat, der sich mit seinen Kumpanen über den „Fritz“ aus Deutschland lustig macht.
Überfordert ist Sven zudem von dem Auftrag, sich um den wortkargen, ja verschlossenen Krzeminski zu kümmern. Der ehemalige Häftling lässt den „Zivi“ deutlich spüren, was er davon hält, dass nun ein junger Deutscher dafür verantwortlich sein soll, dass er rechtzeitig zur verhassten Krankengymnastik kommt, seine Einkäufe erledigt oder ihn zur Schwester aufs Land chauffiert. Als Sven sich einmal dazu überreden lässt, Stanislaw im Kreise seiner alten Freunde in einer Gaststätte allein zurückzulassen, handelt er sich prompt eine Rüge seines Chefs Klaus Herold, dem Leiter der Begegnungsstätte, ein: Der Ort sei zu sensibel auch für noch so gut gemeinte Extratouren.
Und dann auch noch dies: Sven, für den sich durch Ania allmählich die Alltagswelt außerhalb des Lagers öffnet, verliebt sich in die stets auf Distanz bedachte Polin. Ania hat sich für ein Stipendium in Brüssel beworben und ihre Gefühle für Sven stehen ihr dabei ebenso im Weg wie Krzysztof, der seinen Job in der von Deutschen aufgekauften Chemiefabrik im Ort verliert.
Svens Verhältnis zu Stanislaw wird von zunehmendem Verständnis für den verbitterten Alten geprägt. Der sieht sich mit völlig verständnis- und daher rücksichtslosen deutschen Lehrlingen in der Chemiefabrik konfrontiert und muss damit leben, dass ihm bei der Einweihung eines Gedenksteins die deutsche Geschäftsführerin Andrea Schneider das Wort abschneidet. Aber auch seine Tätigkeit, die ihn nicht nur an den Ort des Grauens bindet, sondern überhaupt am Leben erhält, ist nicht mehr gefragt: Krzeminskis herkömmliche Methoden zur Konservierung der Koffer gelten längst als überholt.
Nachdem Sven von den Restauratoren Karol und Piotr erfährt, dass Krzeminski überhaupt kein Material mehr zur Restaurierung bekommen soll, stiehlt er kurzerhand Koffer aus dem Magazin des Museums, um seinem Schützling die Illusion zu erhalten, noch gebraucht zu werden. Die Sache fliegt natürlich auf und Stanislaw resigniert: „Der Zeitzeuge wird nicht mehr gebraucht, 'Schindlers Liste' macht mehr Eindruck.“
Ania bekommt das Stipendium für Brüssel, auch Krzeminski will nichts mehr von ihm wissen: Sven ist entschlossen, nach Deutschland zurückzukehren. Als er mit Sack und Pack auf dem Bahnhof von Oświęcim steht, entsteigt gerade eine neue deutsche Schülergruppe dem Zug, hilflos. Am Ende kommen, wie an jedem Tag, Touristen, und Sven muss sich entscheiden...
Robert Thalheims nach „Netto“ erst zweiter Spielfilm ist so leise, dass er die große Kino-Leinwand kaum auszufüllen vermag. Was einerseits die These unterstreicht, das deutsche Kino bliebe in der kammerspielartigen TV-Ästhetik stecken. Andererseits kommt dieser Verzicht auf jede große Geste, auch optisch, Thalheims Gespür für menschliche Sehnsüchte und Ängste vor der ständig in den Köpfen präsenten Holocaust-Katastrophe entgegen. Ein Hollywood-Epos wie „Schindlers Liste“ hätte die feinen Nyancen der Sprachlosigkeit, die bei den jungen Lehrlingen ebenso herrscht wie bei Schülern und Lehrern, bei Geschäftsleuten wie Wissenschaftlern, zugekleistert.
Mit dem Berliner Theaterschauspieler Alexander Fehling und seiner Warschauer Kollegin Barbara Wysocka überzeugen die beiden jungen Hauptdarsteller in ihren ersten großen Kinorollen an der Seite der polnischen Schauspielerlegende Ryszard Ronczewski. Der Marcel Marceau-Schüler war bei uns zuletzt in Robert Glinskis Grass-Verfilmung „Unkenrufe“ zu sehen.
Übrigens: Der Berliner Regisseur hat selbst seinen Zivildienst in Oświęcim abgeleistet. In den 18 Monaten hat er nicht nur begonnen, sich mit dem polnischen Kino zu befassen, sondern auch ein persönliches Verhältnis aufgebaut zu den fünf noch im Ort lebenden ehemaligen Auschwitz-Häftlingen, für die das heutige Museum Teil ihres Lebens geworden ist – wie für Stanislaw Krzeminski.
Pitt Herrmann