"1914". Die letzten Tage vor dem Weltbrand
1914 – Die letzten Tage vor dem Weltbrand
Hans Wollenberg, Lichtbild-Bühne, Nr. 18, 21.1.1931
(...) An innerem ethischem Volumen ist der Stoff "1914" nicht größer als der Stoff "Dreyfus". Das Dreyfus-Schicksal, der Kampf um Recht und Gerechtigkeit, geht die Menschheit nicht um ein Jota weniger an. An äußeren Dimensionen ist "1914" (präziser gesagt: der Inhalt der 39 Tage vor Kriegsbeginn) um ein unendlich Vielfaches weiter ausladend. Zwischen fünf Großmächten und Serbien rollten die Würfel der Weltgeschichte um das Schicksal von Nationen, von Millionen – um den Erdball.
Aber der Dreyfus-Stoff barg für seine filmische Gestaltung von vornherein die dramatische Achse in sich: die Gestalten der zu gestaltenden "Handlung": den Hauptmann Dreyfus, seine Gegner, seine Verteidiger, Zola.
Diese Voraussetzung für filmisches Wirksamwerden war bei dem Stoffgebiet, an das sich Oswalds Autoren, Heinz Goldberg und Fritz Wendhausen, wagten, erst zu schaffen: die Gestaltung persönlichen, menschlichen Einzelschicksals. Und hier, genau hier, verwischt sich die Grenze zwischen Reportage- und dramatischem Film, zwischen darstellender und darbietender Scheidung bei "1914".
Aus den Gestalten des politischen Bühnen-Vordergrundes vom Juli 1914 griffen die Autoren sich den Zaren und seine Umgebung heraus. Sie wählten diejenige Gruppe von Hauptakteuren, auf deren Schultern sie mit Recht die größte historische Verantwortung gebürdet sahen, die Personen, die in ihrer einzigartig absolutistischen Situation dem Psychologen wie dem Sensationsnerv am interessantesten dünken und – unter deren tragisches Schicksal die Geschichte längst ihren Schlußstrich für immer gezogen hat. So machten sie den Zarenhof, seine Figuren und Figurinen zum Hauptschauplatz und zu den Hauptrollen des Dramas 1914. Hierhin konzentrierten sie jene Teilnahme am Persönlichen, die der Besucher ins Filmtheater mitbringt – auch wenn es für zwei Stunden Welt-Theater sein soll.
Diesen dramaturgisch richtig geplanten Gedanken der Autoren hat Oswald mit Konsequenz und mit Gelingen verwirklicht. Eine großartige darstellerische Leistung stand ihm zur Seite: Reinhold Schünzel als Zar. Die in diesen Spalten jahrelang ausgesprochene Mahnung, daß ein Charakterdarsteller wie Schünzel sich zum Schaden deutscher Filmkunst an Clownerien vergeudet habe, findet in seiner ersten und sofort bezwingenden Sprechfilm-Gestaltung ihre Bestätigung. Sein Nikolai II, erdrückt vom Zwang zur Allmachts-Pose, hin- und hergerissen zwischen Gattin und Großfürst, zwischen Krieg und Frieden (den er halten will und der seinen schwachen Händen entgleitet), wird zum menschlichen Kraftzentrum des Filmganzen. (...)
Des Deutschen Reiches Lage zeigt der Film eindeutig und klar so: Alles in Berlin, vor allem Kaiser und Kanzler (Bassermann in der Maske, nicht der Haltung Bethmanns) will Frieden. Telegramme an den Zaren (im historischen.Wortlaut) bis zuletzt; aber die russische Gesamt-Mobilmachung erzwingt den Kriegsbeschluß; das Reich kann unter dem drohenden Schatten des östlichen Riesen nicht tatenlos, nicht wehrlos bleiben.
Man kann einem Film, der die Akteure vom Juli 1914 fast ausnahmslos auf die Leinwand projiziert, von vornherein ungewöhnliches Interesse attestieren; trotzdem ahnt man, wie wenig kurzweilig die reine (noch so getreue) Tatsachen-Reportage aus den Regierungs-Kabinetten als Tonfilm wäre, wenn nicht im Zuschauer selbst mit Alarmglocken das schwingen würde, was vom 1. August 1914 an über die Welt hereinbrach – und was diese Reportage so wenig zeigen kann, wie es die "Staatsmänner" der Julitage, ob fahrlässig oder vorsätzlich erahnten. Das menschliche Interesse am Film entzündet sich am Menschenschicksal – wie es in den Petersburger Szenen von Oswald zu dramatischem Leben geformt ist. Und es entzündet sich nochmals, wenn ein Mensch von Fleisch und Blut – wenn Heinrich George als Jaurès die Leinwand zum Schluß noch einmal mit seinem Atem füllt, um ihn, der erste Tote des Weltkrieges auszuhauchen.