Andrew Thorndike
Andrew Thorndike IV. wurde am 30. August 1909 in Frankfurt am Main als Sohn einer großbürgerlichen Familie geboren. Zu seinen Ahnen gehört David Thorndike, der im Jahr 1620 einer der Pilgerväter auf der "Mayflower" war. Thorndike wuchs in Senzig bei Berlin auf und absolvierte ab 1928 eine kaufmännische Lehre in Berlin. 1931 bekam er eine Stelle bei der Ufa, wo er von 1933 bis 1939 als Generalvertreter in der Werbefilm-Abteilung tätig war. Von 1939 bis 1941 tat er Dienst als Mitglied der Polizei-Reserve.
1941 begann er als Kulturfilm-Regisseur zu arbeiten. Für die Firma Fischerkösen realisierte er Lehrfilme für das Oberkommando der Kriegsmarine und des Heeres. 1942 kommt es jedoch zu einer Zäsur, als sein Kulturfilm "Die Herrin des Hofes", über die Arbeit einer Bäuerin auf einem großen Hof, wegen seiner "eigenartigen" Darstellungen (so die Ufa-Verlautbarung) zunächst verboten und dann in geänderter Form veröffentlicht wurde. Thorndike selbst wurde wegen Verdachts auf "Wehrkraftzersetzung" verhaftet und zur Wehrmacht einberufen. Als Sanitätsgefreiter ging er an die Front.
1945 geriet Thorndike in russische Kriegsgefangenschaft, was einen entscheidenden ideologischen Einschnitt mit sich brachte: Im Antifa-Lager Krasnogorsk wurde er Mitglied des "Nationalkomitees Freies Deutschland" (NKFD), arbeitete als Assistent an der Zentralen Antifa-Schule und war Redaktionsassistent der 'Nachrichten für deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion'. Nach seiner Freilassung und Rückkehr (1948) erhielt er im Januar 1949 eine Stelle als Regisseur beim DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme. Über seine politische Haltung sagte Thorndike 1982: "Ich begann als Dokumentarist, der, gewandelt durch das furchtbare Erlebnis des Krieges, durch die Begegnung mit Sowjetmenschen und die jahrelange Beschäftigung mit der marxistisch-leninistischen Theorie, im Sinne des sozialistischen Ideals handeln wollte."
Sein erster DEFA-Film "Der durchbrochene Kreis" (DDR 1949), über den Aktivisten Adolf Hennecke, löste wegen inszenierter Passagen, in denen Thorndike sich auch von seinem im Westen lebenden Vater distanzierte, eine Kontroverse aus und wurde von der Zensur umgearbeitet – eine bemerkenswerte Parallele zu den Querelen um "Die Herrin des Hofes". In dem kurzen Dokumentarfilm "Von Hamburg nach Stralsund" (DDR 1950) stellte er den Wiederaufbau der Werften an Nord- und Ostsee einander gegenüber, wobei er die "Aufbaustimmung" an den ostdeutschen Werften mit der vermeintlichen Stagnation im Westen kontrastierte. Diese Form der Gegenüberstellung –mit Lob des eigenen Landes bei gleichzeitiger Attacke gegen die westliche Welt– blieb auch in den folgenden Jahren ein Kennzeichen seiner Filme.
In dem langen Dokumentarfilm "Der Weg nach oben" (DDR 1950) schilderte Thorndike die Entwicklung Deutschlands vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. Allerdings fand der Film trotz massiver Unterstützung der DDR-Medien kaum Publikum. Danach drehte er den Dokumentarfilm "Wilhelm Pieck – Das Leben unseres Präsidenten" (DDR 1951), der großteils aus kommentierten Standbildern aus Piecks Leben sowie der damaligen Zeitgeschichte bestand.
Ab 1952 arbeitete Thorndike mit Annelie Kunigk zusammen, die er zwei Jahre zuvor kennengelernt hatte. 1953 heirateten die beiden (für Thorndike war es die zweite Ehe). Im gleichen Jahr wurde er während der Arbeit an dem Film "Stalin und die deutsche Nation" (nicht fertiggestellt) mit einem fingierten Telegramm nach West-Berlin gelockt, wo man ihn wegen "Verdachts der Beihilfe zum Landesverrat an der Bundesrepublik Deutschland" verhaftete. Erst Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass es neben Thorndike Dutzende weitere Beschuldigte gab, die am 9./10. April 1953 im Rahmen der Aktion "Vulkan" in West-Berlin und der BRD verhaftet wurden. Aufgrund internationaler Proteste kam Thorndike aber bereits im Juli 1953 wieder frei.
1954 begannen die Thorndikes mit der mehrjährigen Arbeit an "Du und mancher Kamerad": Mit Material aus dem ehemaligen Reichsfilmarchiv und ausländischen Archiven sowie Wochenschau-Ausschnitten und animierten Fotografien zogen sie darin eine politisch-militärisch-ökonomische Entwicklungslinie vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und die Nazizeit zur Bundesrepublik; daneben wurden einige historische Szenen nachgestellt. Auch in diesem stark thesenhaften Film übten die Thorndikes massive Kritik an der BRD, insbesondere am Weiterbestehen der großen Konzerne und den Karrieren einstiger Nazigrößen. "Du und mancher Kamerad" kam 1956 in die Kinos und avancierte auch international zu einem der erfolgreichsten Dokumentarfilme der DEFA.
In ihrer Filmreihe "Archive sagen aus" setzten die Thorndikes ihre Mischung aus Attacke gegen und Enthüllungen über die BRD fort: In "Urlaub auf Sylt" (DDR 1957) entlarvten sie den CDU-Bürgermeister von Westerland, Dr. Hans Reinefarth, als ehemaligen SS-Führer und "Schlächter von Warschau"; ihr Film "Unternehmen Teutonenschwert" (DDR 1958) warf dem Nato-General Dr. Hans Speidel unter anderem Kriegsverbrechen in der Sowjetunion sowie eine Beteiligung an den Morden am jugoslawischen König Alexander I. sowie dem französischen Außenminister Barthou im Jahre 1934 vor. Beim Filmfestival in Karlovy Vary wurde "Unternehmen Teutonenschwert" mit dem Hauptpreis ausgezeichnet.
Von 1959 bis 1963 arbeiteten die Thorndikes an "Das russische Wunder", einer Chronik der Sowjetunion seit der Revolution. Das fertige Werk, das einen Bogen von Lenin bis Gagarin spannte, wurde in zwei jeweils zweistündige Filme aufgeteilt. Der erste Teil schilderte vor allem die historische Entwicklung des Landes und wurde weitestgehend begeistert aufgenommen; der zweite Teil hingegen erntete wegen seiner vereinfachenden Darstellungen mitunter heftige Kritik. Dennoch wurde der Zweiteiler auch international ein enormer Erfolg. Zu dem Film erschien auch ein aufwändiger Bildband, für den Annelie Thorndike die Fotos zusammengestellt hatte. Das Buch wurde in insgesamt 20 Sprachen übersetzt.
Während der Arbeit an "Das russische Wunder" wurde Thorndike 1961 Mitglied der Akademie der Künste der DDR. 1967 gründete er den Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR ("DEFA-Gruppe 67") und war bis zu seinem Tode dessen Präsident. Über die Zusammenarbeit mit seiner Frau Annelie, die nicht bei allen Filmen auch als Regisseurin tätig war, sagte Thorndike 1966: "Es hat sich von Anfang an ergeben, dass ihre Neigung mehr dem Wort gehört, der literarischen Seite, dem Kommentar, der Arbeit mit dem Ton, der Synchronisation. Andererseits stellte sich heraus, dass Montage und Musik zu meinem Bereich gehören. Das heißt, wir arbeiten getrennt. Es hat so etwas wie eine Spezialisierung eingesetzt, die natürlich von Fall zu Fall Veränderungen und Verschiebungen zeigt".
1968 begann das Ehepaar mit der Arbeit an einem neuerlichen Großprojekt: Bei "Du bist min. Ein deutsches Tagebuch" übernahmen sie allerdings nur die künstlerische Leitung und delegierten die Regie an Michael Englberger, Hans-Joachim Funk und Manfred Krause. "Du bist min. Ein deutsches Tagebuch" entstand nach Tagebüchern Annelie Thorndikes, die auch selbst im Film auftrat, und war als Liebeserklärung an ihre Heimat gedacht. Das Film-Poem wurde im 70mm-Format gedreht und 1969 beim Moskauer Filmfestival mit dem Spezialpreis der Jury geehrt. Die Kritik nahm den Film jedoch eher negativ auf.
Anfang der 1970er Jahre realisierten die Thorndikes mehrere "kleinere" Dokumentarfilme ("Mein ganzes Leben lang. Hermann Dünow berichtet aus seinem Leben", DDR 1971; "Hier Deutsche Volkspolizei", DDR 1972). Zu dieser Zeit kam es auch zur Ehescheidung. Ihre filmische Zusammenarbeit setzen sie gleichwohl fort. 1974 nahmen sie einmal mehr ein mehrjähriges und inhaltlich höchst ambitioniertes Projekt in Angriff. "Die Alte Neue Welt" (DDR 1974-1977), bei dem Annelie allerdings nur den Kommentar beisteuerte, eröffnete mit dem Satz: "Der Planet Erde ist Schauplatz dieses Films. Vier Milliarden Menschen bewohnen ihn. Woher sind sie gekommen – wohin gehen sie?". Einerseits war diese "filmische Weltbetrachtung" von abstrakter und philosophischer Natur, andererseits machten die beiden aus ihrer marxistischen Haltung auch diesmal keinen Hehl. Zwar wirkte "Die Alte Neue Welt" nicht allzu plump-propagandistisch, allerdings kann die abschließende Aussage des Films inzwischen als längst überholt betrachtet werden: "Vor sechzig Jahren beginnt die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus. Vor sechzig Jahren hat der Mensch begonnen, die Schwelle zu überschreiten, die vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit führt."
"Die Alte Neue Welt" blieb Andrew Thorndikes letzte Regiearbeit. Am 14. Dezember 1979 starb er in Ost-Berlin, DDR.