Sohrab Shahid Saless
Sohrab Shahid Saless, geboren am 28. Juni 1944 in Ghazvin, Iran, zog 1962 von Teheran nach Wien, wo er an der Schauspielschule Krauss Regie und Dramaturgie für Theater studierte; parallel dazu besuchte er die Schule für Filmgestaltung und Fernsehen an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst. 1967 musste er seine Studien wegen einer Tuberkulose-Erkrankung unterbrechen. Noch während der Therapie ging Saless nach Paris, wo er sein Studium am Conservatoire libre du cinéma français (CLCF) fortsetzte.
1968 kehrte er in den Iran zurück. Dort drehte er für das iranische Kulturministerium rund 20 Kurzfilme und kurze Dokumentarfilme. Dabei deckte er so unterschiedliche Themen ab wie traditionellen Tanz bei verschiedenen iranischen Volksgruppen und die "Weiße Revolution" des Schahs Mohammad Reza Pahlavi. Sein Film "Ob?" (IR 1972), über Jugendprobleme im Iran, erhielt beim Nationalen Filmfestival Teheran den Dokumentarfilmpreis. Sein vierminütiger Stop-Motion-Film "Siah-o sefid" ("Black and White", IR 1972) wurde beim Internationalen Kinderfilmfestival in Teheran preisgekrönt. Bei der iranischen Regierung hingegen erregten seine mitunter sozialkritischen Dokumentationen Missfallen.
Während seiner Jahre im Iran realisierte Saless auch zwei abendfüllende Spielfilme. "Yek ettefāq-e sāda" ("Ein einfaches Ereignis", IR 1974) erzählte vom Alltag eines zehnjährigen Jungen, der mit seinen Eltern in äußerst bescheidenen Verhältnissen an der nordiranischen Küste lebt, wo der Vater die Familie mit illegalem Fischfang über Wasser hält. Im Forum der Berlinale wurde Saless für "Ein einfaches Ereignis" mit dem Interfilm-Preis und mit dem OCIC-Preis ausgezeichnet (Notabene: beide Preise wurden 1992 zum Preis der Ökumenischen Jury fusioniert). Beim Internationalen Filmfestival in Teheran erhielt Saless den Regiepreis.
Sein zweiter Langspielfilm "Tabiate Bijan" ("Stillleben", IR 1974), zugleich sein letzter im Iran gedrehter Film, schilderte den monotonen Berufs- und Ehealltag eines alternden Schrankenwärters, der an einer verwitterten Bahnstation seinen Dienst verrichtet. Auch dieser Film lief, wie "Ein einfaches Ereignis", auf der Berlinale 1974, allerdings im Wettbewerb. Die Jury zeichnete den Film mit einem Silbernen Bären aus; daneben erhielt "Stilleben" den Interfilm Otto-Dibelius-Preis und den FIPRESCI-Preis. Filmhistorikern gelten Saless' iranische Arbeiten als stilbildend für das "Neue iranische Kino" und für die Werke von Filmemachern wie Abbas Kiarostami und Mohsen Makhmalbaf.
Noch 1974 verließ Saless als Gegner des Schah-Regimes den Iran. Er ließ sich in Deutschland (West) nieder, wo er in den folgenden Jahren eine Reihe viel gerühmter, aber kommerziell mäßig erfolgreicher Filme drehte. "In der Fremde" (DE/IR 1975) erzählte von einem Türken, der sich als Fabrikarbeiter in Berlin eine neue Existenz aufbauen will, aber an den harten Lebensrealitäten zu zerbrechen droht. Auch dieser Film lief, nur ein Jahr nach "Stilleben", im Wettbewerb der Berlinale. Und auch diesmal gewann Saless den FIPRESCI-Preis. Heute zählt "In der Fremde" zu den Klassikern über das Thema Migration und Gastarbeiterschicksale in Deutschland.
Fürs deutsche Fernsehen (ZDF) drehte Saless das Drama "Reifezeit" (1975), über einen Neunjährigen aus Berlin-Wedding, der nicht ahnt, dass seine allein erziehende Mutter als Prostituierte arbeitet. Wie die meisten Arbeiten von Saless zeichnet der Film sich durch eine extrem ruhige, ebenso nüchterne wie sensible Erzählweise sowie eine beklemmende Atmosphäre aus, die hier durch die Schwarzweiß-Fotografie noch verstärkt wird. Beim Chicago International Film Festival wurde "Reifezeit" mit einer Silver Plaque ausgezeichnet; beim Locarno Film Festival erhielt der Film von der Ökumenischen Jury eine 'Besondere Erwähnung'. Ebenfalls fürs Fernsehen realisierte Saless "Tagebuch eines Liebenden" (1977), über einen jungen Mann, der von seiner Freundin verlassen wird. Sein ohnehin schon ereignisarmes Leben endet in völliger Einsamkeit. Auch dieser Film wurde von der Kritik hoch gelobt und auf Festivals unter anderem in London und Chicago gezeigt.
Bis 1981 realisierte Saless vier weitere Fernseharbeiten: In dem Dokumentarfilm "Die langen Ferien der Lotte H. Eisner" (1979, TV) erzählt die deutsch-französische Filmhistorikerin und Filmkritikerin Lotte Eisner, von vielen Vertretern des neuen deutschen Films als eine Art geistige Mutter verehrt, aus ihrem ereignisreichen Leben. Das Sozialdrama "Ordnung" (1980, TV) handelt von einem Mittvierziger aus bürgerlichen Verhältnissen, der wegen seines zunehmend rebellischen Geistes in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert wird; beim Cannes Filmfestival lief "Ordnung" in der Reihe Quinzaine des réalisateurs. Beim Chicago International Film Festival wurde er mit einem Bronze Hugo ausgezeichnet.
Für den dreieinhalbstündigen Film "Grabbes letzter Sommer" (1980, TV), über den eigensinnigen, früh verstorbenen Schriftsteller Christian Dietrich Grabbe (1801-1836), erhielt Saless den Grimme-Preis in Gold (zusammen mit Autor Thomas Valentin und Hauptdarsteller Wilfried Grimpe) sowie den Grimme Sonderpreis des Kultusministers von Nordrhein-Westfalen. Einem weiteren Schriftsteller, den er nach eigener Aussage als ein Vorbild betrachtete, war Saless' nächster Film gewidmet: Der Dokumentarfilm "Anton Pavlovič Čechov - Ein Leben" (1981, TV) zeichnete Biografie und Wirken des berühmten Literaten nach.
Im Wettbewerb der Berlinale 1983 feierte der wohl berühmteste Film von Sohrab Shahid Saless Premiere: "Utopia" (1983), ein kammerspielartiges Psychodrama über fünf Frauen, die in einer zum Bordell umgestalteten Wohnung als Prostituierte für einen sadistischen Zuhälter (Manfred Zapatka) arbeiten. Auf Grund seiner äußerst intensiven Atmosphäre, der radikalen Inszenierung und der parabelhaften Geschichte gilt "Utopia" längst als Meisterwerk. Er wurde mit dem Fernsehpreis der Deutschen Akademie der darstellenden Künste Frankfurt am Main ausgezeichnet und erhielt beim Baden-Badener Fernsehfestival den Drehbuchpreis. Der Filmhistoriker Olaf Möller bezeichnete den Film im Jahr 2016 anlässlich einer Berliner Saless-Retrospektive als "ein Zentralmassiv des Weltkinos".
Direkt nach "Utopia" realisierte Saless für das ZDF "Empfänger unbekannt" (1983), eine Reflexion über den alltäglichen Rassismus in Deutschland: Im Mittelpunkt steht eine bürgerliche Frau, die ihren verständnislosen Ehemann (Manfred Zapatka) verlässt und sich in einen arbeitslosen türkischen Architekten verliebt.
1984 wurde Sohrab Shahid Saless in die Akademie der Künste aufgenommen. Aber trotz seiner künstlerischen Erfolge und der Unterstützung durch Filmemacher wie Eberhard Fechner musste er immer wieder um die Realisierung seiner Projekte kämpfen. Bei Fördergremien und Produzenten stieß er vielfach auf Ablehnung – ein Umstand, den er bitter beklagte. So schrieb er nach "Utopia" in einem offenen Brief: "Ich ging fünf Jahre lang in den Fernsehanstalten ein und aus. Ich habe das Drehbuch immer wieder bei staatlichen Förderungsanstalten eingereicht und immer wieder Körbe bekommen. (…) Ich sage offen und ohne Rücksicht auf eventuelle Ungnaden, in die ich fallen werde, es gibt hier in der Bundesrepublik vielleicht acht Produzenten, die einem Filmemacher Rückendeckung geben, damit er das machen kann, was er ursprünglich vorgehabt hat. Und es gibt sehr wenig Redakteure, die mutig sind, für einen Stoff zu kämpfen, auf die Barrikaden zu gehen, damit auch mal ein realistischer Film gemacht wird. Zwei von diesen Redakteuren [einer davon ist Willi Segler, Anm. d. R.], das hat sich bei 'Utopia' gezeigt, sitzen beim ZDF." Zu Saless' nicht realisierten Wunschprojekten gehören unter anderem Adaptionen von Falladas "Der Trinker" und Helmut Kraussers "Fette Welt".
Aber nicht nur bei der Umsetzung seiner Stoffe stieß Saless auf erhebliche Probleme. Mehrmals drohte ihm die Ausweisung, sein künstlerisches Schaffen in Deutschland wurde lediglich geduldet: "Die Aufenthaltserlaubnis ersetzt nicht die Arbeitserlaubnis", lautete ein amtlicher Vermerk in seinem Pass. Frustriert von dieser zermürbenden Situation ging er zeitweise in die Tschechoslowakei (damals Tschechoslowakische Sozialistische Republik), wo er zwei Filme realisierte: "Hans – Ein Junge aus Deutschland" (DE/FR/CZ 1983-85), nach dem autobiografischen Roman "Die blaue Stunde" von Hans Frick, handelt von einem Jungen, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit seiner Mutter, einer deutschen Fabrikarbeiterin, in Frankfurt lebt. Da der (abwesende) Vater Jude ist, sind Mutter und Sohn zunehmend antisemitischen Schmähungen ausgesetzt. Im Mittelpunkt von "Der Weidenbaum" (CZ/DE 1984), einer Verfilmung der gleichnamigen Erzählung von Anton Tschechow, steht ein Knecht, der einen Raubmord beobachtet, die Beute an sich nimmt und dann das Verbrechen meldet, womit ein absurder Gang durch die Behörden beginnt. "Diese Geschichte ist so einfach", sagte Saless später, "dass alle Redakteure und Produzenten sowie Drehbuchautoren und Regisseure sie als Vorlage für einen Fünfzehn-Minuten-Film einschätzten."
Zurück in Deutschland entstand das Fernsehspiel "Wechselbalg" (1985-87), ein eindringliches Drama über eine kleinbürgerliche Frau, die mit ihrem Mann ein Pflegekind aufnimmt, sich jedoch als vollkommen unfähig erweist, eine emotionale Beziehung zu dem Mädchen aufzubauen. Danach wollte Saless den Roman "Ein Unding der Liebe" von Ludwig Fels als Zweiteiler fürs Fernsehen verfilmen. Er schrieb das Drehbuch, aber nach langen Vorbereitungen konnte er aufgrund einer Krebserkrankung die Regie nicht selbst übernehmen. "Ein Unding der Liebe" wurde von Radu Gabrea inszeniert.
Vier Jahre später stellte Saless seinen nächsten Film fertig: das dreistündige Drama "Rosen für Afrika" (1991, TV), einmal mehr als ZDF-Koproduktion in Redaktion seines Mentors Willi Segler entstanden, handelte von einem Ehepaar ungleicher sozialer Herkunft, das durch die selbstzerstörerischen Tendenzen des Mannes in eine tiefe Krise gerät. Für die Regie bei diesem Film wurde Saless 1992 mit dem Fernsehpreis TeleStar (Vorläufer des Deutschen Fernsehpreises) in der Kategorie Beste Regie ausgezeichnet. Allerdings nahm er diese Auszeichnung nicht mehr persönlich entgegen: Er war kurz zuvor in die USA übergesiedelt, nach Chicago, wo Teile seiner Familie lebten. 1994 wurde ihm in Frankfurt am Main der Große Preis der Stiftung des Verlags der Autoren für sein "Gesamtwerk" verliehen - als wäre klar, dass er diesem Werk nichts mehr würde hinzufügen können. Tatsächlich konnte Saless auch in Amerika keinen weiteren Film realisieren. Am 2. Juli 1998 starb er in Washington D.C. (manche Quellen nennen Chicago) an den Folgen einer chronischen Lebererkrankung. Erst in den Jahren und Jahrzehnten danach erfuhr sein Gesamtwerk ganz allmählich eine angemessenere Würdigung durch die deutsche Filmwissenschaft.
In seinem Nachruf, gehalten in der Akademie der Künste am 26. Juli 1998, sagte Hans Helmut Prinzler: "Mit einer Genauigkeit, die man besessen nennen kann, entwarf Saless Porträts von leidenden Menschen. Einsamkeit, Gewalt, Unterdrückung, Liebessehnsucht sind in seinen Filmen die psychologischen Grundlagen. Für die Darstellung sozialer Realität benutzte er nicht das dokumentarische Abbild, sondern die kunstvolle Stilisierung: durch die Inszenierung des Unscheinbaren, die Gestaltung des Alltäglichen. In Bildern, Geräuschen, sparsamen Dialogen, in einer oft alptraumhaften Beschwörung von Raum und Zeit. (…) Wir sollten nicht nur heute an diesen großen Künstler und seine Filme denken."