Mondscheinkinder
Mondscheinkinder
Andrea Dittgen, film-dienst, Nr. 25, 2006
Im Weltall ist alles in Ordnung. Ein kleiner Astronaut, dessen Heimatplanet Lichtjahre von der Erde entfernt ist, sitzt am Steuer seines Raumschiffs, um andere Welten zu erkunden. "Noch nie hat sich ein Raumschiff so weit vorgewagt." Doch dann passiert ein Unglück, das Raumschiff stürzt ab auf die Erde. Die bewusst etwas naiv gezeichnete Animationssequenz, die wie handgemalt aussieht, markiert nicht nur den Beginn dieses ungewöhnlichen Kinderfilms; auch zwischendurch tauchen immer wieder diese Weltraumabenteuer auf. Es sind Geschichten, die die junge Lisa erfindet, wenn sie jeden Nachmittag zusammen mit ihrem kleinen Bruder Paul zu Hause sitzt. Die liebevoll entwickelten Abenteuer, in denen Paul zum mutigen, auf der Erde gestrandeten Weltraumpiloten wird, helfen dem Jungen, sich wenigstens ein bisschen von seiner Krankheit abzulenken: Paul hat eine extreme Sonnenallergie, die Mondscheinkrankheit, und darf nicht ans Licht. Nur abends, wenn es dunkel ist, kann er das Haus verlassen, aber dann ist niemand mehr zum Spielen draußen. Paul darf auch nicht in die Schule, er hat nur seine Schwester. Die allein erziehende Mutter muss Geld verdienen und ist kaum zu Hause. Lisa liebt ihren Bruder, auch wenn sie durch ihn in der Schule zur Außenseiterin wird. Die Mitschüler halten Paul für ein Monster, eine Art Vampir, der stirbt, wenn er in die Sonne kommt. Sie schneiden Lisa, die sich lieber in ihr Schullabor zurückzieht, wo sie Algen züchtet – auch im Dunkeln, als würde sie auch da noch lieber in die Welt ihres Bruders fliehen. Sich um Paul zu kümmern, von dem jeder weiß, dass er bald sterben wird – auch Paul selbst – ist eine Selbstverständlichkeit. Bis sich Lisa in Simon verliebt, einen Jungen aus ihrer Klasse, der sich auch fürs Weltall interessiert und Astronaut werden will. Simon hat anfangs nur wenig Verständnis dafür, dass sie nachmittags immer zu ihrem Bruder will, und Paul ist eifersüchtig und lügt, wenn Simon anruft, damit er Lisa weiter bei sich behält. Aber als Paul ins Krankenhaus muss, erlebt er die schönsten Momente seines Lebens, als Lisa und Simon ihn eines Nachts aus dem Haus schmuggeln und die drei auf dem Dach sitzen und in den Nachthimmel schauen. Paul sagt, dass er wohl irgendwann als Sternschnuppe wieder zur Erde kommen wird; die anderen sollen dann an ihn denken.
Dass solche Szenen nie kitschig oder peinlich, sondern stets poetisch wirken, liegt daran, dass Regisseurin Manuela Stacke in ihrem Abschlussfilm an der HFF München immer wieder geschickt die Stimmungen wechselt. Ohne Vorankündigung und trotzdem ohne Bruch pendelt sie zwischen der engen Welt von Pauls Wohnung, der Schule, der Sternwarte (wo sich Lisa und Simon näher kommen), dem Krankenhaus und den extrem hellen und bunten Animationssequenzen. Eher nebenbei kommen die schwierigen Themen zum Tragen: die Verantwortung für den Schwächeren, der liebevolle Umgang der Geschwister, die erste Liebe einer Zwölfjährigen und vor allem der nahe Tod. Selbst die Krankenhaus-Szenen, wenn der Arzt wieder ein neues Melanom entdeckt, sind nicht künstlich aufgepuscht, sondern fügen sich ins ruhige Gesamtkonzept. Von der Krankheit an sich erfährt man wenig – wozu auch, sie ist lediglich der Katalysator für eine schöne Geschichte zwischen Traum und Wirklichkeit über das, was Leben und Sterben bedeutet. Insofern ist "Mondscheinkinder" fast schon ein kindliches Pendant zum Sterbefilm "Die Invasion der Barbaren" (fd 36 239). Ein bisschen gekünstelt wirkt die Geschichte nur dann, wenn die Erwachsenen zu lange im Bild sind, etwa wenn die Mutter, eine Busfahrerin, mit Paul nachts einen Ausflug macht, unterwegs der Motor streikt und langsam, wunderschön und bedrohlich zugleich, die Sonne über Paul aufgeht. Pauls Tod sieht man nicht, man hört nur den Song "Du bist nicht mehr da" und sieht Lisa, wie sie auf dem Dach sitzt und in den Himmel schaut. Die Zuschauer mögen vielleicht weinen, vor Rührung oder weil gerade diese Szenen so gefühlvoll sind, aber Lisa weint nicht. Sie spricht nicht und sie trauert auch nicht, sie tut das, was Paul früher tat: Sie wünscht sich etwas, was nur der Songtext verrät: "Hätte ich einen Wunsch frei, dann wär’ ich jetzt bei dir." Sie muss den Schicksalsschlag erst verarbeiten, der ihr ganzes Leben umkrempeln wird. "Die ganze Traurigkeit steckt irgendwie fest", meint Lisa schließlich zu Simon, bis sie in seinen Armen dann doch noch weint – und eine Sternschnuppe sieht.
Trotz der ernsten Themen ist der Film erfrischend und untypisch deutsch, weil die Art der Bilder und der Sprache gar nichts von der Atmosphäre hat, an denen man hiesigen Filmen schon von den ersten Sekunden an ihre Herkunft anmerkt. Die eingestreuten Animationen sind kindgerecht, passen zur Geschichte und sind in dieser Häufung auch ungewöhnlich. Vor allem aber agieren Leonie Krahl als Lisa und Lucas Calmus als der unternehmungslustige Bruder so natürlich, dass sie mühelos den Film tragen und alle anderen an die Wand spielen: ein Glücksfall von einem Kinderfilm. Dass er auch bei erwachsenen Zuschauern ankommt, beweist der Publikumspreis beim Saarbrücker Festival "Max-Ophüls-Preis“ 2006.