Gespenster
Pinocchia
Daniel Kothenschulte, Frankfurter Rundschau, 15.09.2005
Von Geisterbildern sprach man früher, wenn die Fernsehantenne schlecht eingestellt war oder ein Gewitter zu so genannten Überreichweiten geführt hatte. Dann konnte man plötzlich das Gesicht der belgischen Ansagerin über dem Kölner Tatort ausmachen. Wie ihren Besitzern entlaufene Spiegelbilder hatten sie frech alle Reichweitengrenzen überwunden. Heute, wo selbst das Schwarzweiß aus dem Fernsehen verschwunden ist, können uns höchstens noch die Überwachungskameras mit solchen Geisterbildern irritieren. Sie allein haben die Hoheit über das weiße Rauschen. Christian Petzold hat lange genug mit dem medienkritischen Filmessayisten Harun Farocki gearbeitet, einem anerkannten Connaisseur automatisierter Bilder. So ist dann auch die eindringlichste der gewohnt-unaufdringlichen Bildkompositionen seines neuen Films "Gespenster" eine solche Überwachungskamera-Inszenierung. Eine Schattenhand schiebt einen Kinderwagen aus der Bildfläche ins ewige Nichts.
Der Berliner Tiergarten ist Petzolds
Märchenwald Für die Mutter des entführten Kindes hat sich diese Aufnahme auf der Netzhaut förmlich eingebrannt. Seit anderthalb Jahrzehnten kehrt sie an den Berliner Tatort zurück, um in den Gesichtern von Teenagern nach Ähnlichkeiten zu ihrem verlorenen Baby zu suchen. Die französische Herkunft der Frau ist relativ leicht zu erklären – dieser Film ist eine Koproduktion mit Arte, und da werden solche Kleinigkeiten mitunter verlangt. Für andere ausgelegte Spuren dieses beklemmenden Schattenspiels gilt das nicht. So wie sich die meisten Märchen eben nur bis zu einem bestimmten Punkt psychologisch dechiffrieren oder als Gleichnis für kollektive Wünsche oder Ängste lesen lassen, wirken auch die Elemente, aus denen "Gespenster" besteht, manchmal wie Doppelgänger ohne Original.
Beginnen wir mit der Hauptfigur, der 17-jährigen Nina. Sie lebt in einem betreuten Wohnprojekt, einer Art Jugendknast mit offenen Türen. Der Film führt sie ein bei der Verrichtung einer Arbeit, wie sie oft von Gefangenen durchgeführt wird – dem lustlosen Säubern einer öffentlichen Parkanlage. Es handelt sich um den Berliner Tiergarten, und obwohl es gar nicht viele Tiere darin gibt, ist es Petzolds Märchenwald. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Ammen vor dem finsteren Dickicht warnten. Das Übel lauert heute in den urbanen Grünflächen. Und Nina, sie ist vielleicht nicht gleich das Rotkäppchen, aber doch eine Grimm"sche Heldin auf unbestimmten Pfaden, ein verlorenes "Babe in the Woods", wie "Hänsel und Gretel" auf englisch heißt. Oder auch das leibhaftige Dornröschen, das seine ersten 16 Lebensjahre als Schläferin durchs Leben zog, bevor es von einer Spindel unsanft geweckt wurde.
Es ist ein plötzlicher Gewalteinbruch, der Nina aus ihrer Apathie erweckt. Eine junge Frau wird von Männern zusammengeschlagen. Es ist Toni, eine urbane Streunerin und Gelegenheitsdiebin, die Ninas Hilfsangebot dankbar annimmt. Und dann ist es dennoch Toni, die das jüngere Mädchen an die Hand nimmt und in ihre eigene Überlebenskunst einführt – so wie der charismatische Lausbub Lucignolo einst den neugierigen Pinocchio auf die Vergnügungsinsel lockte. In der einzigen nicht wirklich überzeugenden Episode dieses Films landen die Mädchen auf der Party eines lüsternen Nachwuchsregisseurs.
Es ist immer ein Problem, wenn Filmemacher, deren Geschäft doch stets die Schaulust ist, Voyeure diskreditieren. Liest man diesen Film als Collodi-Variation (was bei Leibe nicht die einzige Art ist, ihn zu sehen), dann überzeugen andere Szenen mehr: Die Marionettentheaterepisode (ein Casting, zu dem Nina mit genommen wird und in irritierender Offenheit einen Traum erzählt) und die Begegnung mit der guten Fee, die freilich selbst das traurigste Irrlicht dieses Märchens ist: Die Französin, die Nina auf der Straße anspricht, weil sie sie für ihre Tochter hält, meint Nina ein Leben jenseits ihrer Möglichkeiten versprechen zu können.
Pinocchio ist nicht die nächstliegende Referenz, möglicherweise hat niemand daran gedacht, aber die Vorstellung einer entmoralisierten Variante des Kunstmärchens, in der die Marionette in einer Welt aus Lügen allein die Wahrheit sagt, kommt der Sache bereits nahe. Petzold selbst bezieht sich auf ein Grimm"sches Märchen, "Das Totenhemdchen". Vor dem Nicht-Loslassen-Können warnen die Brüder in diesem bitteren Trost aus finsteren Zeiten. Petzold schließt sich ihnen an, in diesem bedächtigen Film, dessen einziger Makel zu sein scheint, dass er nicht so schnell einschlägt wie "Die innere Sicherheit", dafür aber, ganz im Sinne seines Titels, ein bleibendes Nachbild erzeugt.
"Gespenster", liest es sich einfach und gewaltig auf dem Filmplakat. Das unscharfe Gesicht hinter den Buchstaben, über die sich ein Streifenraster gelegt hat, sieht allerdings nicht gerade zum Fürchten aus. Gespenstisch ist es dennoch. Es gehört Julia Hummer, Ninas Darstellerin, die schon im früheren Film ein Opfer unsicherer Familienverhältnisse spielte. Unter ihren geschlossenen Augen trägt sie auf dem Plakat ein feines Lächeln, von dem wir nicht wissen, ob es nur versonnen ist oder – bereits tot.
Irritierender Verismus
schmuckloser Berliner Stadtkulissen Auf einem Phantom-, einem Geisterbild, beruht die vermeintliche Ähnlichkeit zum vermissten Baby. Ein Computer hat das mutmaßliche Aussehen der Gesuchten aus einem Kinderfoto errechnet. So ähnelt es niemandem und jedem – ein seltsam jenseitiges Engelsgesicht. Dies lenkt den Blick zu einer weiteren wichtigen Quelle für diese Geschichte, Jacques Tourneurs zwischen Leben und Tod schwebenden Melodramen aus dem Hollywood der Vierziger Jahre. Anders als Petzold glaubte Tourneur tatsächlich an Geister. Seinen Filmen wie "Ich folgte einem Zombie" und "Katzenmenschen" haftet folglich ein besonderer Verismus an, der sie von typischen Horrorfilmen unterscheidet. Die schattenhafte Katze im letzteren Film spielte Tourneur dabei mit seinen Händen im Scheinwerferlicht.
Petzold und sein Kameramann Hans Form drehen lieber im formlosen Naturlicht schmuckloser Berliner Stadtkulissen – und betreiben so jenen für Geistergeschichten so irritierenden Verismus mit ganz anderen Mitteln. Es sind Bilder, die ihre Lesart nicht mit dem Edding eingeschrieben haben, und die den Betrachter gerade deshalb so gut führen.
Wie Petzolds letzte Filme berührt "Gespenster" jenes filigrane Etwas, das man früher Familienbande nannte, obwohl es doch eher dünnen, unsichtbaren Häuten gleicht, die, einmal zerrissen, Phantomschmerzen erzeugen. Das Phantom, das sie schmerzt, glaubt die Französin in der jungen Frau gefunden zu haben, und gern würden wir mit ihr auf ein glückliches Ende hoffen. Doch obwohl der Film auf einem Grimm"schen Märchen basiert, ist das alles andere als garantiert. Immerhin gehört "Das Totenhemdchen" zum traurigsten und schauerlichsten, was uns die Brüder hinterlassen haben.