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Der Künstler Jürgen Böttcher, zu DDR-Zeiten als der Maler "Strawalde" bekannt, drehte 1989/1990 seine persönlichen Impressionen von den letzten Tagen der Berliner Mauer. Er zeigt geschichtsträchtige Schauplätze wie den Potsdamer Platz, den Reichstag und das Brandenburger Tor, aber auch stillgelegte unterirdische Bahnhöfe. Die Mauer nutzt er im Moment ihrer Zerstörung als Projektionsfläche für historische Filmzitate, vom Kaiserreich über die NS-Diktatur bis zur Zeit der deutschen Teilung.
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Noch bestehen beide deutsche Staaten, am Reichstagsgebäude weht die bundesdeutsche Flagge, am Brandenburger Tor, wo Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR patrouillieren, die Fahne mit Hammer und Sichel. An einer Maueröffnung am Potsdamer Platz herrscht Hochbetrieb in beiden Richtungen, Postenhäuschen sind unbesetzt, NVA-Grenzer und Volkspolizisten schauen zu.
Von ihnen begleitet darf das Defa-Team in den Katakomben des S-Bahnhofs Potsdamer Platz drehen: zur gespenstischen Atmosphäre tragen nicht nur ohne Halt durchfahrende Züge der West-Berliner Linien bei, sondern auch das nach wie vor besetzte Wachtposten-Häuschen auf dem Bahnsteig, ein Schlüsselkasten für den Notausgang, ein völlig verstaubtes Telefon „für Notfälle“ und ein reichlich verrosteter Panzerschrank.
Hoffen und Bangen steht in den Gesichtern der häufig noch sehr jungen Grenzsoldaten, die etwa am Gropius-Bau und am Springer-Hochhaus neugierige Blicke durch größere Lücken in der Mauer zulassen und sich sogar mit ihrem Trabant-Kübelwagen auf dem offenbar von Stolperdrähten und Selbstschussanlagen geräumten Grenzstreifen fotografieren lassen. Erste Graffiti finden sich auf der geweißten östlichen Seite der Mauer: die Wachtürme sind verwaist.
Es sind NVA-Kräfte, die beiderseits des Brandenburger Tors mit Baggern Beton-Elemente aus der Verankerung reißen und mit Kränen auf Lastkraftwagen hieven – unter großem Beifall der Zuschauer. Mehrere Kamerateams sind unterwegs in dieser geschichtsträchtigen Wendezeit, ein CNN-Reporter spricht seine wenigen Sätze gleich mehrfach ins Mikrophon. Und eine schwedische Journalistin spricht das Defa-Team an: es herrscht Volksfest-Stimmung mit Blasmusik zu Beethovens Schiller-Vertonung „Ode an die Freude“, mit Plakaten, Spruchbändern und Fahnen auf dem noch kompletten Mauerstück vor dem Berliner Wahrzeichen.
Auf einen Mauerrest projiziert Böttcher Dokumentaraufnahmen vom Mauerbau 1961 mit den ikonischen Szenen, die inzwischen zahlreiche Brandmauern entlang der Bernauer Straße zieren. Da muss der Volkseigene Betrieb erst zur Gesellschaft mit beschränkter Haftung mutieren, damit die Defa sowjetische Räumpanzer, flüchtende Volksarmisten und Tränen nun von ihren Lieben getrennten Berlinern zeigen kann. In späteren Einspielungen folgen Szenen aus dem Kaiserreich, der Nazi-Herrschaft, der Sowjetischen Besatzungszone und der jungen DDR: ein Geschichtspanorama an der Schnittstelle zwischen West und Ost.
„Woodstock war ein Dreck dagegen“ lässt sich eine junge Stimme vernehmen bei der großen deutsch-deutschen Fete am Brandenburger Tor zum Jahreswechsel 1989/90. Ein internationales Publikum lässt „Gorbi“ hochleben: Michail Gorbatschow, bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, gebührt wohl der größte Anteil an der erst noch bevorstehenden deutschen Wiedervereinigung.
Auf dem noch bis auf das Hotel Esplanade leergeräumten Potsdamer Platz organisiert Roger Waters am 21. Juli 1990 ein Benefiz-Konzert mit zahlreichen Prominenten von Bryan Adams bis Ute Lemper: „The Wall“ der britischen Rockband „Pink Floyd“ verfolgen 300.000 Leute. Darunter auch zwei junge Schornsteinfeger, denen Thomas Plenert buchstäblich über die Schultern auf die Menschenmenge und die gewaltig dimensionierte Bühne schaut.
Mit besonders schön bemalten Betonelementen, die auf einem Mauer-Friedhof parken, bis sie als Freiheitssymbol in alle Welt verschickt werden, schließt Jürgen Böttcher seinen bisher vorletzten Dokumentarfilm: „Die Mauer“ ist, obwohl ohne jedes Kommentar-Wort, ein sehr persönlicher Rückblick – und ein wertvolles Zeugnis einer euphorischen Umbruchzeit, an die sich wieder zu erinnern heute mehr denn je lohnt.
Pitt Herrmann