Der die Tollkirsche ausgräbt

Deutschland 2005/2006 Kurz-Spielfilm

Der die Tollkirsche ausgräbt



Horst Peter Koll, film-dienst, Nr. 24, 2006

Offensichtlich war es eine Geste unter Freunden, als man es der als Regisseurin noch gänzlich unerfahrenen Schauspielerin Franka Potente ("Lola rennt", fd 33 256) ermöglichte, ihren ersten eigenen "langen Kurzfilm" zu inszenieren. Daraus resultiert dieses filmische Kuriosum, eine Fingerübung in Schwarz-weiß, ganz in der Tradition des klassischen Stummfilms, dessen Stilmittel "naturgetreu" nachempfunden werden. Stilistisch verortet sich die Etüde dementsprechend zwischen den Polen von (Slapstick-)Komödie und (expressionistischem) Drama. Die Geschichte spielt im Sommer 1918 im feudalen Haus einer kaisertreuen, durch den Krieg verarmten Familie, wo der naive, standesstolze Vater und die zwielichtige, berechnende und zudem der Hexenkunst zugetane Mutter ihre Tochter Cecilie dem reichen, aber ungeliebten Alfred zur Frau geben wollen. Cecilie wehrt sich eher moderat gegen die Vermählung und lässt den Dingen schicksalsergeben ihren Lauf, bis am Tag der Hochzeit etwas Seltsames geschieht: In einem Erdloch im Garten entdeckt man eine mysteriöse Mumie. Als man diese "auswickelt", entsteigt dem Kokon ein junger Mann – ein Zeitreisender aus der Moderne des ausgehenden 20. Jahrhunderts, ganz im Punk-Outfit, der mit der "historischen" Familie indes kaum zu kommunizieren weiß: Der Punk spricht, aber die Familie, ganz in ihrer stummen Welt gefangen, weiß damit nichts anzufangen. Cecilie indes ist fasziniert und verliebt sich umgehend. Nun erst wird sie aktiv und beschwört des nachts geheime Magie, um einen Tollkirschentrank zu kreieren, mit dem sie den Besucher aus der Zukunft an sich binden will.

Franka Potente hat sich bei den alten Erzähltechniken des stummen Kinos genau umgesehen. Den grell-weiß geschminkten, mit ausladend-expressiven Gesten und Bewegungen agierenden Darstellern rückt sie mit mal starrer, mal "entfesselter" Kamera zuleibe, verdichtet die Szenen mal komisch und "zappelig" in Mack-Sennett-Slapstick-Manier, mal atmosphärisch düster im Stil des deutschen (Stummfilm-)Expressionismus, wenn es um das Aufeinanderprallen von magischer Archaik und rationaler Moderne geht – "Alraune", "Der Golem, wie er in die Welt kam", "Das Cabinet des Dr. Caligari" oder auch "Faust", diese und andere Filme lassen grüßen, wenn es um das Spannungsverhältnis zwischen familiärer wie auch staatlicher Autorität und dem sich Bahn brechenden unterbewussten Widerstand geht. Dabei sind die formalen wie inhaltlichen Ansprüche Franke Potentes ungleich bescheidener als in den alten Meisterwerken: Sie begnügt sich mit dem Ausprobieren technisch-narrativer Mittel, spielt mit Irisblende und Filmtricks à la Méliès, jongliert mit Zwischentiteln und (eindrucksvoller) orchestraler Musik und hat ihren Spaß an Brüchen, wenn sich allmählich die Grenzen zwischen Normalität und lustvollem Wahnsinn aufheben und die Fantasie Purzelbäume schlägt. Das ist weitgehend kurzweilig und phasenweise auch amüsant (etwa in der Einbeziehung alter Kintopp-"Erotik"), aber selbst für die knappe Filmlänge substanziell nur in Maßen tragfähig. Die Spielereien haben dem Filmteam selbst sichtlich Spaß gemacht, doch dieser überträgt sich nur marginal auf den Zuschauer. Das Manko ist, dass sich von der tatsächlichen schöpferischen, innovativen und auch provokativen Filmsprache des Stummfilms kaum wirklich etwas Substanzielles vermittelt.

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