Zwei Deutsche

DDR 1988 Dokumentarfilm

Deutschstunde


Henryk Goldberg, Filmspiegel Nr. 21, 12.10.1988


Wilhelm und Hans-Georg, zwei Kinder. Der eine lächelt deutsch und stolz als der Führer ihm die Wange tätschelt und kommt nach Deutschland/West. Der andere heult sich die ungelebte Kindheit aus dem Leib und kommt nach Deutschland/Ost. (…)

Hübner und Henke, zwei Deutsche.

Wo erhält die Biographie eines Menschen ihre Zwangsläufigkeit? Wo sind die möglichen Gabelungen eines Lebensweges? Wo scheiden sich Zufall und Notwendigkeit? Welchen Teil hat ein Ich an seinem Leben, welchen die Gesellschaft? Zwei Arten von Deutschland – auch zwei Arten von Deutschen? Landshut /BRD und Finsterwald/DDR - dazwischen eine Grenze, die auch Denkweisen scheidet. Die Autos sind anders auf den ersten Blick, die Köpfe auf den zweiten, hoff ich, können wir erhalten.

Gitta Nickel, Wolfgang Schwarze und Niko Pawloff fanden einen traumhaften Stoff. Fanden ihn zufällig und erkannten, welch Chance sich da bot. Zwei Vierzehnjährige – ohne eigenes Zutun ins Symbolische erhoben –, die sich je ein anderes Deutschland suchten: Solch deutsch-deutsche Metaphorik, solch eine Deutsch-Stunde wagte kein Mensch sich glaubhaft auszudenken.

Die Andersartigkeit von Denk- und Lebensweisen schreit einem gleichsam leise ins Gesicht. Leise weil der Film sich klug zurückhält, die fair-neutrale Haltung des Registrierens einnimmt. Die deutliche Verschiedenheit im Grundsätzlichen setzt sich differenziert fort im Individuellen, die Weise zu leben prägt auch die Weise, sich zu äußern. Wo der eine, keineswegs unsympathisch, mit einem Hang zur Selbstdarstellung in seinem schmucken Häuschen sitzt und als Hausherr sicher Meinungen über Welt und Menschen äußert, ist der andere wohl bedenkender, zeigt nicht so liebevoll sein Häuschen vor und seine Meinung. Irgendwie hat der Mann das Leben ernster genommen, in einer bestimmten Art, sich als Teil eines Ganzen begriffen. Er hat sich wohl weniger um Haus und Wagen gesorgt und sorgt nun, wie die anderen leben, die nach ihm kommen die schon da sind. Das ist der Vorteil des Schlossers aus Landshut: Die anderen sind ihm egal. Und der Rentner Hans-Georg Henke aus Finsterwalde hat Angst, dieser Nachteil könnte uns abhanden kommen. Zwei Deutsche, zwei Lebensweisen, aber ein Grund-Satz: Nie wieder!


Eine Sternstunde des Dokumentarfilms also, die Deutsch-Stunde? Es ist schwer auf den rationalen Grund zu bringen, aber mir ist so, als habe jemand eine herausragende Idee für eine Novelle gefunden: und schreibt einen Roman. Ich halte empfundene Länge, Überlänge schon für ein Maß der Kunst, denn das Gefühl von Länge signalisiert doch die Abwesenheit einer Art von geistiger Spannung. Das Motiv der beiden Fotos setzt einen spektakulären Doppelpunkt, hinter dem es so natürlich nicht weitergeht, der schnell und zwangsläufig zu ganz normalen Sätzen, ganz normalen Biographien führt. Natürlich, das Wesen des Filmes ist eben diese Normalität, das trägt seinen Anspruch, das macht die beiden ein zweites Mal zu Symbolen. Aber innerhalb dieser Normalität fehlt mir das tragende Interesse an den persönlichen Lebensläufen, es interessiert mehr die Symbolik, das soziale Schema, das Prinzip. Es fehlt also – dem Film, nicht den Männern! – an Konzentration oder an Persönlichem. Es fehlt also neben dem wichtigen Allgemeinen das nicht weniger wichtige Besondere. Das Grundmotiv einmal beiseite: Wie tragfähig wären dann noch die beiden Lebensbilder, wieviel erzählte jeder der dann entstandenen beiden Filme über seinen Helden? Henke und Hübner stehen für Millionen - das ist der Vorzug des Filmes. Aber was steht für Henke und Hübner - das ist sein Problem.

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