Leben in mir
Leben in mir
Alexandra Wach, film-dienst, Nr. 13, 2006
Seit Krzysztof Kieslowskis Tod gelangen polnische Filme nur noch sporadisch ins deutsche Kino. "Leben in mir" von Malgosia Szumowska (geb. 1973) schaffte den Sprung nicht zuletzt dank deutscher Hilfe: co-produziert von Pandora Film, redaktionell betreut von ZDF/ARTE und vom Sundance Institute bei der Drehbuchentwicklung unterstützt, weckt der Film große Erwartungen – die aber bereits in der ersten halben Stunde enttäuscht werden. Am Beginn glaubt man sich noch im Universum von Kieslowskis "Dekalog": Eine junge, androgyn wirkende Frau jobbt lustlos an der Kasse einer Tankstelle und schaut den Prostituierten zu, wie sie unter den Lastwagenfahrern Kunden suchen. Bisweilen gibt es lautstarken Streit, es regnet ohne Unterlass, und auch die Farbgestaltung beschränkt sich auf grau-blaue Töne. Dann folgt die Kamera der 22-jährigen Eva nach Hause, wo sie mit der Mutter in bescheidenen Verhältnissen lebt. Eva ist schwanger. Da sie selbst noch nicht zu sich gefunden hat und der Vater des Kindes verschwunden ist, denkt sie an Abtreibung.
Erst beim Entkleiden auf der Geburtsstation merkt sie, dass sie im Bus ausgeraubt wurde und nun den teuren Eingriff nicht bezahlen kann. Vom Arzt abgewiesen, läuft sie an einer Glasscheibe vorbei, hinter der eine schwangere Frau per Ultraschall den heranwachsenden Fötus auf dem Bildschirm betrachtet und von der Ärztin versichert bekommt, dass das Kind jeden von der Außenwelt kommenden Ton wahrnimmt. Dies ist eine Schlüsselszene und zugleich das Signal für einen Tonwechsel, der den bis dahin stimmigen Film aus der Bahn wirft. Wie von einer plötzlichen Eingebung heimgesucht, beginnt Eva, ein Tagebuch zu führen und ihrem Ungeborenen auf Schritt und Tritt die Welt zu erklären, beschränkt sich dabei aber ausgerechnet auf spezielle Gebiete wie Töne und Farben, die in ihrer Kuriosität mitunter verdächtig nah der Fantasiewelt von Amélie Poulain folgen. Auch die Farbgebung ändert sich abrupt: Vor strahlendem Sommerlicht blüht das international gefragte Model Malgosia Bela zur femininen Schönheit auf, tanzt und singt auf der Straße und gleitet in den Armen von Bauarbeitern durch Krakaus Altstadt – was wiederum Assoziationen an Musikfilme wie "Die Regenschirme von Cherbourg" (fd 30 511) hervorruft. Dies alles könnte man noch als "poetische Tagträumerei" einordnen, wenn die Kamera nicht weiterhin bei ihren durchgestylten Werbebildern bliebe und das Drehbuch immer mehr den Erzählstrukturen einer Seifenoper folgen würde.
Während ihr tief gläubiger Vater an Alzheimer erkrankt, schließt die Abiturientin innige Freundschaft mit einer Prostituierten vom Lande und verliebt sich in jenen jugendlichen Junkie, der sie ausgeraubt hatte. Wenn sie mit dem naturverbundenen "jungen Wilden" nicht gerade nackt im Fluss badet oder auf einer Wiese zu Musik-Anleihen vom "Amélie"-Soundtrack herumtollt, besucht das Pärchen Gebärkurse oder schaut nach dem Kontrastprinzip potenziellen Selbstmördern zu, wie sie jeden Tag immer um die gleiche Uhrzeit von einer Brücke springen möchten und es am Ende doch nicht tun. Mit dem notorischen Zweifler und Nihilisten, der die Versuchungen der Moderne personifiziert, taucht Eva in eine infernalisch codierte dunkle Subkultur ein, besucht Partys in heruntergekommenen Fabrikhallen, bei denen mal afrikanische Trommeln tranceartige Atmosphäre suggerieren, mal schwarz gekleidete Opernsänger mit Kastratenstimmen Musikstücke aufführen, die an Kieslowskis Hauskomponisten Zbigniew Preisner erinnern.
So bemüht "hip" wie unverschämt zitatfreudig geht es weiter, als gelte es mit jeder Szene, die eigene Westkompatibilität nachzuweisen und den Beweis zu erbringen, wie genau man die europäischen Erfolgsfilme der letzten zehn Jahre verinnerlicht hat: Von "Die Liebenden von Pont Neuf" (fd 29 648) über "Lola rennt" (fd 33 256) bis zu "Good Bye, Lenin!" (fd 35 817) enthält diese verspätete eskapistische und provinzielle Wundertüte allerlei Blendwerk. Falls eine Idee oder ein Bild nicht geklaut sind, versinken sie in Kitsch und billiger Symbolik, etwa wenn Eva, die mit ihrem Gutmenschentum zunehmend einen Heiligenschein vor sich her trägt, mit verklärtem Blick schwangere Madonnen-Porträts von Da Vinci betrachtet oder ihr sterbender Vater sich zur Musik von Bach mit den Worten verabschiedet: "Es gibt keinen Tod. Nur einen Sprung in die unendliche Liebe." Wo alles schon einmal da war, wird umgekehrt alles beliebig. Während "Das Leben in mir" sämtliche Klischees über den polnischen Katholizismus in immer neuen Volten weiterdreht, fällt der Blick auf die polnische Nachwende-Realität entsprechend bescheiden aus und beschränkt sich auf Skurrilitäten des neuen Trash-Fernsehens. Richtung Telenovela bewegt sich auch das Ende. Spätestens hier ist es längst egal geworden, wer wen ein weiteres Mal vor der Sünde des Selbstmords oder der Abtreibung bewahrt, und auch die Frage, wie Eva ohne Arbeit, Partner und die Einkünfte des verstorbenen Vaters das Kind durchzubringen gedenkt, muss nicht mehr gestellt werden. Der eigentliche Zweck des kruden Schicksal-Amalgams, das Handwerk der Regisseurin und vor allem des Kameramanns zu demonstrieren, ist bereits übererfüllt und die unglaubwürdige Geschichte mangels Seele längst vergessen.