Schultze gets the Blues
Schultze Gets the Blues
Michael Ranze, epd Film, Nr. 5, 02.05.2004
Normalerweise spielt Schultze mit seinem Akkordeon Polka. Wenn er auf Cajun umsattelt, bedeutet das was. Michael Schorrs Film gewann 2003 in Venedig den Regiepreis im "Controcorrente"-Wettbewerb.
Wie er so dasteht, das Akkordeon auf den runden Bauch gestützt, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augen geschlossen, mit den Fingern die richtigen Tasten suchend, die Melodie still nachempfindend, ein wenig verlegen ob des eigenen Mutes, mal etwas anderes zu spielen, ein wenig ratlos ob der Reaktion der Zuhörer, die bislang andere Töne gewöhnt waren – da ahnt man, welch großer Romantiker dieser Schultze ist. Einer, der sich mit seinem Schicksal nicht abfinden mag. Einer, an dem eine große, unerfüllte Sehnsucht nagt. Eine fremd klingende Musik lässt ihn nicht mehr los. So ist er zum Handeln gezwungen.
Horst Krause – Fernsehzuschauer kennen ihn aus "Polizeiruf 110" – spielt diesen Schultze mit der ganzen Wucht seines massigen Körpers. Fast möchte man ihn als legitimen Nachfolger von Gert Fröbe bezeichnen. Doch zu dessen Grausamkeit und Größenwahn in "Goldfinger" wäre Horst Krause nie fähig. Allein seine körperliche Präsenz signalisiert Unbeweglichkeit und Bodenständigkeit. Er ist die perfekte Verkörperung des deutschen Kleinbürgers, unter dessen dickem Schutzpanzer es gleichwohl rumort. Ein Ausbruch aus der vertrauten Ordnung scheint jederzeit möglich.
Schultze ist ein Stoiker, der nicht viele Worte macht. Für sein plötzlich erwachtes Interesse an Cajun-Musik hat der Frühpensionär, der doch sonst so flott die Polka spielte, denn auch keine Erklärung. Darum geht er zum Arzt, der an der Geschmacksverschiebung allerdings nichts Gesundheitsschädliches entdecken kann. Vielleicht ist da aber auch die unbestimmte Ahnung, dass die melancholisch-erdigen Rhythmen unmittelbar mit seinem Leben zu tun haben, einen Ausweg aus der Misere weisen.
Schultze ist nichts mehr geblieben. Das Kali-Bergwerk in einem Provinzkaff in Sachsen-Anhalt hat ihn zusammen mit seinen zwei Kumpeln Manfred und Jürgen vorzeitig in die Pension geschickt. Mit der Arbeit fehlt plötzlich der Lebensmittelpunkt. Schultze hat weder Frau noch Kinder. Seine Mutter sitzt mit Alters-Demenz im Heim und erkennt ihn nicht einmal mehr. Zwischen Kneipenbesuch, Schrebergarten und Volksmusikverein verstreicht langsam die Zeit. Eckpunkte, an die sich Schultze und seine Freunde verzweifelt klammern, um ihren Alltag zu strukturieren.
Doch dann lösen die Südstaatenklänge im Radio einen Zauber aus, dem sich Schultze nicht länger verschließen will. Für seine Freunde kocht er plötzlich scharfe Jambalaya, dem polka-geschundenen Akkordeon entlockt er flotte Sumpfklänge. Im Musikverein reagiert man reserviert. Nicht von ungefähr heißt er "Harmonie". Alles Neue und Andere wird hier als Störung, wenn nicht als Gefahr empfunden. Die Wiederkehr des Immergleichen kaschiert nur notdürftig die Lebensangst.
Michael Schorr hat für sein Spielfilmdebüt den Osten Deutschlands als Schauplatz (wieder-)entdeckt: trostlose Kneipen, spießige Gartenlauben, lächerliche Gartenzwerge, freudlose Heimatmusikabende. Die riesige Abraumhalde, die die Kamera von Axel Schneppat in einer Totalen am rechten Bildrand einfängt, scheint den kleinen Ort erdrücken zu wollen. Die Verschandelung der Landschaft, die marode Schwerindustrie und die hohe Arbeitslosigkeit mit ihren sozialen Folgen konstatiert Schorr zwar mit dokumentarischem Blick, aber eher beiläufig, ohne Larmoyanz. Der Stillstand, der die Menschen erfasst hat und in eine tiefe Schwermut versetzt, findet eine optische Entsprechung in der geschlossenen Bahnschranke, die der eigensinnige Wärter erst auf mehrfaches Zurufen hin öffnet. Solche ironischen Zuspitzungen brechen die Melancholie immer wieder auf. Schorr wandelt auf dem schmalen Grat zwischen Ernst und Humor. Die Übertreibung der Klischees, an denen er sich manchmal zu sehr delektiert, wirkt darum nie denunzierend. Dafür liebt Schorr seine Figuren viel zu sehr.
Das skurrile Sittenbild aus der ostdeutschen Provinz erinnert an die Lakonie Aki Kaurismäkis, vor allem aber an jene von Detlev Buck, der Horst Krause schon in "Wir können auch anders" auf kleine Fahrt geschickt hatte. Schorr klammert sich aber nicht an Vorbilder oder Bezüge. Sein Film wandelt sich mit einem Mal zum Road Movie, bei dem es, der Genrekonvention gehorchend, um Selbsterfahrung und Sinnsuche sucht. Die Reise in die Fremde als Reise zu sich selbst. Schultze hat genug von Bier und Polka und macht sich auf ins ferne Texas, wo er auf dem Wurstfest in New Braunsfeld ("The ten days salute to sausage") seinen Musikverein vertreten soll. Aber der Weg nach Westen, jene in zahlreichen Hollywood-Western mythisch überhöhte Bewegung, hat hier nichts mit der Erschließung unbekannten Terrains zu tun: In New Braunfels geht es zu wie daheim. Dieselben Rituale, dieselbe Einsamkeit. Die Bewegung geht also weiter – bis sie Schultze an den Ursprung seiner Sehnsucht, in die Sümpfe von Louisiana führt. Hier sind endlich Begegnungen möglich. Schultze ist bei sich angekommen. Ein Zurück gibt es nicht mehr.