Dirnentragödie

Deutschland 1927 Spielfilm

Dirnentragödie


Willy Haas, Film-Kurier, Nr. 90, 16.4.1927


(...) Hätte ich die Möglichkeit, die Zeit, Lust und die praktischen Kenntnisse (ich habe alle vier Dinge nicht): ich schnitte diesen Film um, ganz auf lange, ungebrochene, kontinuierende Spielszenen; und es wäre eine ganz neue, überraschende Sache.

Was geht durch die kalte, errechnete Schneiderei verloren? Jedes Zeitgefühl. Man weiß nicht, was heute geschah, was morgen, was in vier Wochen. Weil Vorgänge von Minuten sechsmal auftauchen; Vorgänge von Tagen nur einmal, flüchtig. Das Unterbewußtsein zählt instinktiv mit. Wenn eine kleine Natürlichkeit zwischen Mann und Frau schon sechsmal geschnitten immer wieder auftaucht und, etwa, nachher der Weltkrieg nur einmal: dann suggeriert uns eben unser Instinkt, diese kleine Minutenangelegenheit habe länger gedauert als der Weltkrieg.

Dabei sind gerade die Situationen des Manuskripts – von Ruth Goetz und Leo Heller – außerordentlich stark und von einer fast grausamen Erfindung. Wenn eine alte Dirne heulend vor einer verschlossenen Tür liegt, und dahinter vergnügt sich ein dummes Bürschchen, in das sie sich vergafft hat, mit einer anderen jüngeren Dirne, und die beiden tun so, als wären sie nicht da, aber die Alte fühlt es, was nebenan geschieht: das ist schon eine gut ausgedachte Sache. Aber es kommt alles nicht ganz heraus, weil die Technik nicht in den Fingerspitzen sitzt, um es ganz herauszubringen. Mit der Technik läßt sich im Film nicht spaßen. Sonst kann man sich die stärksten Sachen ausdenken, und trotzdem …

Übrigens gehört das alles kaum hierher. Dieser Film ist sicher nicht gemacht worden, um auf die Goldwaage gelegt zu werden. Er sollte auf diesem Plateau gar nicht kritisiert werden. Wäre das etwa im Film von Murnau, mit höchsten künstlerischen Intentionen des Regisseurs, dürfte man über jeden toten und falschen Schnitt Klagelieder anstimmen; hier nicht; hier ist eine solche Kritik fast nur ein Dialog mit dem Regisseur, der dritte nichts angeht. Denn es sollte ja nur ein sauberer, vernünftiger, spannender Gebrauchsfilm gemacht werden: und das ist eben vollauf gelungen. Amen.

Natürlich: bis auf die Asta Nielsen. Die kommt aus einer ganz anderen Welt, atmet in einer ganz anderen Welt, trägt eine ganz andere Welt in diese hinein: die Welt der wirklich großen Kunst.

Es ist nicht das, was sie tut, was sie spielt. Sie spielt oft nervös und sogar innerlich her um eine Szene herum. Das können andere ebensogut und besser als sie: eine "Szene" spielen. Sondern es ist gewissermaßen die zitternde, schwingende, melancholisch-musikalische Stimmlage, die sie im Spiel einnimmt, in der ihre Mimik schwerelos und doch körperhaft-hart und kompakt schwebt. Dieses Spiel ist wirklich wie ein warmer, zitternder, kerniger Körper in unseren Händen – und doch wieder etwas vollkommen Fließendes, Stofflos-reines: ausströmender Gesang. Andere sprechen indem sie spielen; gut oder schlecht: sie aber singt. So ganz anders wirkt das. Ihre Spielszene ist ein Anlaß; ihr Antlitz aber ist ein Hohlspiegel, der alles Gewirr von Qual und Seligkeit und totem Nichts und strahlendem All, durcheinander, den wir Menschenleben nennen, in sich auffangen und spiegeln kann. (...) In ihrem Spiel dehnt sich die Minute zur riesigen Zeitspanne, in der Menschen geboren werden, hoffen, leiden und sterben. Ein mimischer Monolog der Asta Nielsen ist der tiefste künstlerische Genuß, den die gesamte Filmkunst zu bieten hat. (...)

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