Das zweite Erwachen der Christa Klages
Edle Räuberin
Hans-Christoph Blumenberg über "Das zweite Erwachen der Christa Klages"
Die Zeit, 21.04.1978
Das hätte ein zorniger, böser Film werden können: die Geschichte einer jungen Kindergärtnerin, die sich auf einen Banküberfall einlässt, als anders keine Mittel mehr für ihren Kinderladen zu beschaffen sind. Der Entschluß zum kriminellen Akt ist rasch gefasst, natürlich geht die Sache schief, bald schon läuft die Fahndung auf Hochtouren, es führt kein Weg zurück. Hitziger Idealismus, die falschen Mittel zum richtigen Zweck: das Protokoll einer Verzweiflung und der Unfähigkeit, mit ihr umzugehen. So oder so ähnlich sind sicher schon manche aufs Fahndungsplakat geraten: Bürgerkinder. Wie Gewalt entsteht und wie man darin umkommt. Die vielbeschworenen "Wurzeln des Terrorismus" hätten sich in einem solchen Film gewiß analysieren lassen.
Doch diesen Film über die verlorenen Kinder der Ära Schmidt hat Margarethe von Trotta nicht gedreht. Zwar basiert "Das zweite Erwachen der Christa Klages", unter großem Beifall während der Berlinale uraufgeführt, auf dem authentischen Fall jener Kindergärtnerin Margit Czenki, der die Kollegen vom Boulevard-Fach den Spitznamen "Banklady" verpassten und der es die ordentliche Gesellschaft inzwischen reichlich schwer macht, wieder ein "normales" Leben zu führen, aber ein politischer Film ist dies nicht geworden: eher ein freundliches, allzu freundliches linkes Märchen, das niemandem recht weh tut, nicht einmal dem öffentlich-rechtlichen Co-Produzenten WDR.
Mutmaßungen über Christa Klages, ehemals Klosterschülerin, geschieden, ein Kind: warum überfällt so eine ein deutsches Kreditinstitut, setzt radikal bürgerliche Sicherheit, schließlich ihr Leben auf Spiel? Man erfährt nicht viel über diese Figur, fast überhaupt nichts über ihr "zweites Erwachen". Denn Margarethe von Trotta, lange Jahre Mitarbeiterin und Schauspielerin bei Volker Schlöndorff, stattet ihre Protagonistin mit Eigenschaften aus, die in jede vergilbte Kolportage-Story passen würden: Christa K., warmherzig und menschenliebend, ein rundum edler Charakter, der sich im Verlauf der immerhin abwechslungsreichen, mitunter gar heiteren Handlung überhaupt nicht verändert.
Eine Gemütsregung wie Verzweiflung kommt kaum je vor, und wenn die meist etwas überanstrengt wirkende Tina Engel in die Titelrolle tatsächlich einmal die psychische Disposition eines Menschen auf der Flucht, mit gescheiterten Plänen und zunehmend vereinsamt, darstellen soll, lässt sie die Regisseurin mit einer tapferen Dennoch-Haltung agieren. Nicht zufällig hält Pfarrer Hans, der sich nach standesgemäßem Zögern entschließt, Christa K. und ihrem Freund bei der Flucht zu helfen, seine große Sonntagspredigt über Mutter Courage und ihre stumme Tochter, die die Stadt durch lautes Trommeln rettet. Später sieht man auch Christas kleine Tochter mit einer Kindertrommel: Alles klar.
Wie es sich für ein richtiges Mädchen gehört, geht die Affäre denn auch schließlich einigermaßen gut aus. Nach einer Sommerfrische im sozialistischen Portugal, wo Christa und ihre dem spießigen Offiziers-Gatten entflohene Freundin Ingrid das einfache Leben der Landarbeiter schätzen lernen, kehrt die ehrbare Räuberin nach Deutschland zurück und lässt sich von der Polizei fangen. Aber sogar die mäusige kleine Bankangestellt, der Christa beim Überfall die Pistole an die Schläfe gedrückt hatte, lässt sich von der allgemeinen Güte anstecken. Bei der Gegenüberstellung verrät sie unsere Heldin nicht.
Diese Lena, gespielt von Katharina Thalbach, und die Offiziers-Frau Ingrid (Silvia Reitze) sind die interessantesten Figuren dieses für einen Erstling erstaunlich geschickt, fast routiniert inszenierten Films. Mit ihnen überwindet er gelegentlich seine Beschränkungen als ebenso effektsicheres wie letztlich doch sehr naives Räuber-und-Gendarm-Spiel, gewinnt bei allen Schwächen eine utopische Dimension. Zustände erscheinen veränderbar, Charaktere verändern sich, sanft, aber bestimmt, unter dem Druck, den "der Widerspruch zwischen dem, was die bestehenden Lebensformen und Verhältnisse (die bürgerliche Ehe, Arbeits-verhältnisse) zulassen, und dem, was man selbst als Forderung an sein Leben hat". So formulierten Margarethe von Trotta und ihre Co-Autorin Luisa Francia das Thema des Films.
Katharina Thalbachs Lena, streng und geduckt, in einem trostlosen Zimmer hausend, andächtig die Lottozahlen mitschreibend, bekommt auf ihrer Suche nach Christa selber eine seltsame Sehnsucht nach wilden, unordentlichen Verhältnissen: Wandlungen einer Bürokraft, mit leisem Fanatismus dargestellt, und ein Traum von Solidarität. Ähnlich überzeugend und differenziert entwickelt sich Ingrid, die, ganz sacht, mit verhaltener Neugier und einem lange unterdrückten Bedürfnis nach Zärtlichkeit ihr komfortables Eigentumswohnungs-Gefängnis verlässt. Nur ist ihr Gegen-Part, der pedantische, Fledermäuse jagende Bundeswehr-Offizier, kaum mehr als eine mickrige Papierfigur, über die sich allzu leicht lachen lässt.
In der Welt der Margarethe von Trotta geht es sehr weiß und sehr schwarz zu. Die Fehlfarben der Wirklichkeit sind, wenigstens in diesem Film, kaum ihre Sache. Dennoch verbreitet er – und das sollte man nicht gering achten – eine gewisse Fröhlichkeit: Selbst die naivsten Märchen verheißen Hoffnung auf bessere Zeiten.
© Hans C. Blumenberg