Der Totmacher

Deutschland 1995 Spielfilm

Der Totmacher

epd Film Nr.12/1995

Totmachen – bereits in dieser Wortwahl liegt eine gewichtige Entscheidung. Es klingt unbeholfen, kindlich, da schwingt die Hilflosigkeit eines Beteiligten, eines Getriebenen, eines Gezeichneten mit. Totmachen hat mehr mit Sterben als mit Morden zu tun. Und so war es nicht heimtückische Absicht, sondern triebgestörtes Verhalten, das den homosexuellen Kleinkriminellen Haarmann zum Mörder werden ließ.

Er lebte dort, wo sich in den Inflationsjahren nach dem ersten Weltkrieg das "Hauptzentrum alles Luder- und Lasterlebens von Hannover" befand, in der Klein-Venedig genannten Insel-Altstadt, wo im Mai 1924 zum ersten Mal ein Jünglingsschädel angespült wurde. Der Psychologe Theodor Lessing, anfänglicher, dann ausgeschlossener Prozeß-Beobachter, fängt seinen berühmt geworden Aufsatz "Die Geschichte eines Werwolfs" nicht zufällig mit einer Milieuschilderung an, er wollte die Wahrheit über den Fall herausfinden, aber er war damals wohl der einzige. Lessing wurde 1933 im Exil in Marienbad von nationalsozialistischen Tätern ermordet.

Das Protokoll des bereits 1938 verstorbenen psychiatrischen Gutachters Dr. Ernst Schultze, das dem Film zugrunde liegt, taucht in den bisherigen Veröffentlichungen zu Fritz Haarmann nicht auf. Als Fritz Haarmann schließlich 1924 verhaftet wurde, war er bereits 15mal vorbestraft und seit 1918 als Polizeispitzel tätig. Im Prozeß wurden über zweihundert Zeugen verhört, aber von all dem erfährt man in Karmakars Film nur wenig, er verzichtet weitgehend auf Tatsachen, auf Erläuterungen, er schält aus dem Dokumentarspiel die menschliche Begegnung, das Psychogramm heraus. Aber er zeigt in einer kurzen Einstellung wie der inzwischen von der Brom-Behandlung (zwecks Ruhigstellung des Triebpatienten) verunstaltete und im Anstaltskittel etwas verwahrlost wirkende Haarmann einmal ausgesehen haben muß. Adrett, im blaugrauen Anzug mit Hemd und Krawatte, ein Durchschnittsmensch, nicht unsympathisch.

"Ich hatt' einen Kameraden", erklingt wie ein Prolog über dem Vorspann des Films, ein Kamerad, der vor genau siebzig Jahren zum Tode verurteilt wurde, der die Figur des Franz Biberkopf in Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz", den Mörder in Fritz Langs Film "M" oder die Schlächterfiguren zahlreicher bildender Künstler inspiriert hat oder auch das Operettenlied "Warte, warte nur ein Weilchen ..." in eine Moritat verwandeln konnte. Vom besungenen Glück zum versprochenen Tod mit dem Hackebeilchen. Die Metamorphose dieses Liedes allein wäre schon Beleg genug für die ganze Kracauersche These über die Entfesselung kollektiver Dispositionen in Fällen extremer politischer Veränderungen. 1924 wird als das Jahr einer langen Verfallsperiode angesehen, einer Zeit, die sich durch eine zunehmende geistige Lähmung auszeichnete, die am Rande des Abgrunds, zwischen Anarchie und Autorität, entlangschwankte, die zahllose kulturpessimistische Prognosen hervorbrachte.

Anders gesagt: Karmakar rollt noch einmal das Tribunal gegen den entsprungenen Irrenhausinsassen aus "M" auf, entkleidet es jedoch ganz des Spekulativ-Sensationellen und des Krimihaften. "Der Totmacher" ist kein deutscher film noir, sondern ein Kammerspiel in der Tradition Carl Mayers. Hier sitzen sich Menschen gegenüber, es entwickelt sich eine Beziehung, die Kategorien wie Täter und Opfer, Arzt und Patient, überflüssig macht. Fritz Haarmann, Dr. Ernst Schultze, der anonym bleibende Stenograph, das ist ein zusammengewürfeltes Trio, das zunächst ordnungsgemäß an die Arbeit geht.

Die Täterbefragung folgt der vorherrschenden positivistischen Überzeugung, daß sich das Wesen des Menschen über eine Ansammlung von Fakten erschließen lasse. Aber der Täter weicht aus, er stellt sich dumm, zu dumm. Er patscht mit Kinderhänden in einer Wasserpfütze auf dem Tisch herum, er will nichts von einer Republik, nichts von Ebert wissen, obwohl er Sozialdemokrat war, Regression als Tarnverhalten. Aber da sind auch Momente von Unschuld, der Vergleich mit Daniel in der Löwengrube, der Bibelkenner Haarmann, der Angst vor den ungläubigen Verfolgern, den Kommunisten hat.

Der Triebüberwältigte hat das Verdrängen, das Verstecken gut geübt, es ist die Bedingung seines Tuns, denn wenn er sich erinnert, erinnert er sich auch an das Weinen am nächsten Morgen, wenn die Puppenjungs tot neben ihm lagen. Dann kriegt er Kopfschmerzen, dann kann er seinen Schmerz nur mit dem Größenwahn zudecken, dem Prahlhans Massenmörder, der dennoch zaghaft versucht, die Grenze zwischen sich und den anderen zu überschreiten; der weit über die Übertragungssituation einer Psychoanalyse hinausgeht, der Berührung verlangt, der in diesem "Tribunal" die Wiederaufnahme in die menschliche Gesellschaft erfährt, wie eine posthume Geste – als Geschenk eines großen Schauspielers, Götz George.

Regisseur Karmakar hat mit diesem Stoff an seinem Themenkreis weitergearbeitet und im Psychogramm dieses Totmachers die gleichen Methoden weiterentwickelt, mit denen er seinen Söldnern in "Warheads" die Wahrheit entlockt hat: sie reden lassen, bis die Angst kommt und damit die Wahrheit, nur daß es sich hier um eine fiktionale Angst, um einen Schauspielerentwurf handelt, der entwickelt sein will. Das vorhandene Thema, der Ekel vor diesen unappetitlichen Taten und Schilderungen, tritt bei der Darstellung ganz zurück, wird erst in der Erinnerung an den Film wieder stärker, so sehr drängt sich die Entwicklung eines Beziehungsgeflechts in den Vordergrund. Deshalb klingen auch Äußerungen von der Tragweite eines "Liebe deinen nächsten wie die selbst" aus dem Munde dieses Haarmann nicht falsch, heuchlerisch oder anbiedernd, sondern beschreiben so etwas wie Demut, Sühne.

Käsebrot, Kaffee und Zigarre, der letzte Wunsch des Haarmann ist der Wunsch eines Kleinbürgers, der er nie sein konnte. Daß im Grunde in dieser Totmacher-Figur nur die Kehrseite des schrecklichen deutschen Kleinbürgers ersteht, daß dieses Schreckgespenst deutscher Provenienz mit seinem ganzen Selbstzerstörungsdrang und seinen wahnhaften Zügen hier ins Tragische gesteigert wird, gehört zu den großen Qualitäten dieses Films und beleuchtet nebenbei ein Arbeitsziel des jungen Regisseurs, das man an den ungewöhnlichen Schauplätzen seiner Arbeit in Kasernen und an Kriegsschauplätzen auf den ersten Blick nicht vermutet hätte.

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