Coming out
Geschichte von Liebe und Verrat
Am 28.5.1919 wurde im Berliner Apollo-Theater der erste ernstzunehmende deutsche Film über Homosexuelle und Homosexualität uraufgeführt: "Anders als die Andern" (R.: Richard Oswald, das Buch stammte vom Regisseur und dem berühmten Sexualforscher Dr. Magnus Hirschfeld). Erste Einstellung: Der Geigenvirtuose Paul Körner blättert in Zeitungen und findet darin Notizen über drei Selbstmorde: ein Fabrikant nahm sich das Leben am Tag vor der Hochzeit, desgleichen gingen ein Landgerichtsdirektor und ein Student freiwillig in den Tod – alle aus unbekannten Motiven. Körner starrt nachdenklich vor sich hin, er ahnt die Zusammenhänge. Es wird ihm zur Gewißheit, daß diesen Bedauernswerten das über ihnen schwebende Damoklesschwert eines Gesetzesparagraphen das Leben unmöglich machte, und im Geiste sieht er einen endlosen Zug dieser Unglücklichen – seiner Schicksalsgenossen – aus allen Zeiten und Ländern an sich vorüberziehen.
"Coming out" ist weder ein Aufklärungsfilm noch avantgardistische Filmpoesie. Heiner Carow und Wolfram Witt geben ihrem Thema die Form eines eher traditionellen Melodrams. Die Geste des Aufklärers erschien ihnen als anachronistisch, "unkünstlerisch" zudem (was immer dies auch bedeuten mag), den avantgardistischen Pfad schlossen sie gleichfalls aus: aus kinotaktischen Gründen, aus Ressentiment und natürlich aus einem Konsens mit den vorhandenen Sehgewohnheiten.
In einer Drehbuchversion vom September 1988 endet der Film mit Philipps Bekenntnis vor der Klasse und der hospitierenden Kommission: "Ich habe in den letzten Monaten und Wochen begriffen, daß ich homosexuell bin. Ich habe deshalb ein Leben voll von Lügen … Verstecken und … und Angst gelebt. Angst vor jedem … Diese Angst wurde immer größer… und schlimmer. Ich habe eine Liebe verraten und einen Menschen verloren, der mir sehr viel… sehr sehr viel bedeutet. Ich habe am Ende geglaubt, ich kann nicht mehr Lehrer sein … Ich bin also schwul, wie man so sagt. Ich kann anders nicht leben und ich will es auch nicht."
In seiner Komposition folgt "Coming out" dieser Dreiheit: Beschreiben unserer Beziehungen als grausame Spiele mit – und gegeneinander – der heilige Schmerz der Verzweiflung – und letztlich der Mut, eine Utopie zu erkennen und sich ihr zu öffnen (Rainer Werner Fassbinder).
Die konkrete Geschichte und die spezifische Botschaft von "Coming out" sind untrennbar verknüpft mit der Problematik der anderen Liebe. Aber da auch sie nicht im luftleeren Raum diskutiert werden kann, verband sich eine filmische Artikulation darüber fast zwangsläufig mit anderen Schmerzzonen der DDR-Gesellschaft. Ein Plädoyer für Toleranz und Freiheit der anderen Liebe ist ausdeutbar als Element der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Anderslebenden. Dieser Film gehört in die künstlerischen Vorfelder des Oktober 1989. Die geistigen Unterströme auch dieses Films sind eine Absage an das poststalinistische Monopolisieren der "Wahrheit", an die verschlungenen Zwänge zur Manipulation und Reglementierung des Individuums. Die Bekenntnisse zum Schwulsein als eingestandene Verweigerung gegenüber einer kasernierten "Moral".