Das falsche Gewicht
Das falsche Gewicht
Paula Linhart, film-dienst, Nr. 5, 06.09.1973
Was dem Film seinen außergewöhnlichen Rang gibt, ist die Geschlossenheit der Form, in die er sein Thema breit ausschwingen läßt und diszipliniert bändigt. Dabei trifft er sich mit dem literarischen Vorentwurf – Joseph Roths gleichnamigem Roman – nach Stil und Stimmung, Plastizität des Seh- und Ausdrucksvermögens und der Komposition von Zeit, Landschaft und Menschen, in der der Verfall einer ganzen Epoche sichtbar wird. Den Menschen, die in dem abgeschriebenen galizischen Grenzdorf Zlotograd dürftig hausen, geht es nur ums blanke Überleben; und wo es an allem fehlt, fehlt es auch an der Moral. Mit dieser Einsicht hat schon Bert Brecht den bürgerlichen Sittenkodex von der Bühne her außer Kraft gesetzt. In der tristen Verelendungsszenerie, in der das Häuflein armer Teufel – kleine schachernde Händler zumeist, aber auch ausbeuterische Grenzschmuggler – ihre kümmerlichen Rollen dramatisch aufwerten, wird der Getretene zu einem, der selber tritt, die Korruption zum einzigen Geschäft, das Vergnügen bereitet, und Heuchelei zu schäbiger Meisterschaft entwickelt.
Natürlich wird auch die Liebe tüchtig auf ihren Nutzwert abgeklopft. Diese abgründige Resignation gegenüber dem Wie des Lebens ist gleichzeitig voller Umtrieb und aggressionsgeladener Vitalität. Wenn im Frühjahr der zugefrorene Strom krachend auseinanderbirst, beginnt eine verwegene Springjagd auf den treibenden Eisschollen. Sobald sich die Händler auf dem gemeinsamen Markt stark fühlen, schlägt devote Doppelzüngigkeit in kreischende Hysterie um. Eine Cholera-Epidemie heizt vollends alle Lebenstriebe an. In diesem Milieu steht der neue Eichmeister Anselm Eibenschütz (Helmut Qualtinger), der sich in der k. und k.-Monarchie Sporen und Orden verdient, aber auf Betreiben seiner Frau den Dienst quittiert hat, auf verlorenem Posten. Mit dem geeichten Gewicht legt er, flankiert vom Dorfgendarm, sein Obrigkeitsdenken und anerzogenes Maß für Ordnung und Gerechtigkeit in die Wagschale der Händler, die mit ihrem falschen Gewicht spärlichen Profit einheimsen. Gemessen am sozialen Unrecht und trostlosen Mief dieser Dorftragödie wirkt seine Beamtengerechtigkeit wie ein Popanz, den es entschlossen zu beseitigen gilt. Isoliert von seinen früheren Idealen und Sicherheiten – nur mehr in flüchtigen Erinnerungsbildern kann er sie beschwören –, gedemütigt von seiner Frau, die ihn mit seinem Schreiber, einem skrupellosen Denunzianten betrügt, und zuletzt einer jungen Zigeunerin hörig, die ihn eines anderen wegen bald wieder an die Luft setzt, bröckeln sein Selbst- und Ehrgefühl nach und nach völlig ab. Am Ende wird er von seinem gefährlichsten Gegner wie ein räudiger Hund gehetzt und erschlagen.
Die Gewichte, an die sich Eibenschütz klammert, sind dort, wo das Leben schon den Geruch der Verwesung hat, untauglich, um Schuld und Schicksal, Unrecht tun und Unrecht erleiden gegeneinander auszuloten. Was der Film unmittelbar auf den Untergang der Donau-Monarchie bezieht, bekommt einen überzeitlichen Horizont. Bernhard Wickis Regie ist detail-besessene Sorgfalt. Der Fluß ins Breite lahmt nicht, sondern ist visuell lebendig, der Verzicht auf Stimmungmache gibt dem Film bei aller episodenhaften Kurzweil im Tragikomischen bitterbösen Ernst und einen Hauch bitterer Elegie. Noch in der Szene, die auf den ersten Blick überflüssig erscheint – wenn mit dem toten Eibenschütz symbolisch abgerechnet wird, steckt ein wichtiger Hinweis: Die höhere Instanz, die ihn freispricht, ist identisch mit jenem alten Juden, dessen zeitliche Frömmigkeit deformiert ist wie alles, was um ihn herum existiert. Die Kamera sammelt auf ihren Streifzügen bestechende Bilder ein, sie durchfurcht den Schlamm der Straßen und das Zwielicht der Stubenwinkel und Gesichter. Nicht nur die Hauptdarsteller sind auf ihre Rollen wie eingeschworen, das ganze Ensemble, in dem auch Laien mitwirken, erspielt mit einer Vielfalt pittoresker Typen die Innen- und Außenseite der Grenzsituation, in der der Film angesiedelt ist. Qualtingers Eibenschütz ist eine verschlossene Figur, die mit schweren Schritten in ihre Katastrophe stapft wie in den Morast der Dorfwege, über verhärtenden Gerechtigkeitswahn ebenso stolpernd wie über ihr sensibles Inneres. Sie spielt so erfolgreich gegen die Figur des „Herrn Karl" an, als hätte sie sie nie gegeben! Dieser Film zeigt in exemplarischer Weise, wie sich Können in Kunst verwandeln kann.