Jenseits der Stille
Mit Händen singen
Andreas Kilb, Die Zeit, 20.12.1996
Ein schöner Film. Ein kleiner Film. Ein deutscher Film. Wäre er nicht so versessen darauf, seine Geschichte so gründlich und vollständig wie möglich auszubuchstabieren, hätte er nur mehr Vertrauen in seine Bilder, dann wäre es sogar ein großer Film, ein ganz großer vielleicht.
Die Geschichte: Vater, Mutter und Kind. Die Eltern sind taubstumm, das Mädchen (Tatjana Trieb) ist es nicht. Wenn die Klassenlehrerin das Ehepaar einbestellt, um über die schulischen Leistungen der Tochter zu klagen, oder wenn der besorgte Bankangestellte den Stand des Familienkontos erläutert, muß Lara dolmetschen. Sie hat die Worte, also die Macht. Und sie nutzt sie aus. Als die Mutter (Emmanuelle Laborit) ein zweites Kind erwartet, legt Lara den Kopf an ihren Bauch und spricht zu dem Baby: "Du mußt keine Angst haben, hier draußen ist es nicht ganz still." Und als das Schwesterchen dann auf der Welt ist, spielt Lara ihm auf der Klarinette vor, ganz laut, bis die Kleine zu weinen beginnt. "Du kannst ja hören!" Das ist Laras ganzes Glück.
Andere Kinder haben heimliche Laster, verbotene Idole, verschwiegene Freundschaften. Lara hat ihre Klarinette. Die Töne tragen sie weg aus dem Reich der Stille, der Gebärdensprache, der wortlosen Spiele. Laras Aufstand gegen die Kindheit ist ein Lied. Der Vater (Howie Seago) aber kann das Instrument, aus dem die Klänge kommen, nicht leiden, weil es ihn an sein eigenes Kindsein erinnert, an den Kampf des taubstummen Jungen gegen seine musizierende Schwester (Sibylle Canonica), an das ungleiche Ringen um die Liebe der Eltern. Was er nicht hören kann, macht ihn zornig. So wird der Alltag zum stillen Krieg: Laras Musik gegen das Schweigen des Vaters.
Ein Familienleben, diesseits und jenseits der Stille. Und ringsum die Bilder und Szenen einer süddeutschen Kleinstadt zwischen Hügeln am Fluß, ein Provinz-Idyll im Wechsel der Jahreszeiten. Die redenden Hände, die fragenden Blicke der Gehörlosen – und die hilflosen Antworten der Hörenden. Wie der Schnee denn klinge, fragt Laras Vater. "Eigentlich gar nicht. Er macht die Welt leise." Und die Fahnen vorm Fenster? „Sie klingen wie Glocken. Je mehr Wind, desto lauter läuten sie." Ein schöner Film, ein großer Film aus Deutschland, sechzig Minuten lang.
Aber dann muß die Geschichte sich verbreitern, muß die Elegie der Kindheit sich zum Drama des Erwachsenwerdens entfalten – und da beginnt der Film zu stottern, zu tricksen und mit seinen Figuren zu schachern. Die jugendliche Lara (Sylvie Testud) geht zu ihrer Tante nach Berlin, um sich dort am Konservatorium zu bewerben, sie verläßt die Tante und zieht zum Onkel (Matthias Habich), sie verliebt sich in Tom (Hansa Czypionka) und in die Musik Giora Feidmans – lauter dramaturgische Hakenschläge, die vom eigentlichen Kern des Geschehens ablenken, vom Kampf zwischen Vater und Tochter, zwischen der Stille und der Musik. So verliert sich die Erzählung im Erzählen. Aber wirklich verloren geht sie dabei nicht. Normalerweise läuft, wenn ein deutscher Film ins Schleudern gerät, immer gleich alles schief: die Töne und die Bilder, das Licht und die Gefühle, die Worte und ihr Sinn. Diesmal schleudert bloß das Drehbuch. Und so ist "Jenseits der Stille" noch immer ein Wunder, ein kleines zwar, aber eines, das wir dringend brauchen zwischen all den Filmchen über bewegte Männer und abgeschminkte Frauen.
Caroline Link, die Regisseurin, ist 32 Jahre alt. Sie hat für "Jenseits der Stille" zwei wunderbare Schauspieler entdeckt – Emmanuelle Laborit und Howie Seago, die, selber gehörlos, mit ein paar Gesten mehr erzählen als andere Akteure in langen Monologen. Sie hat mit der elfjährigen Tatjana Trieb eine Kinderfigur erschaffen, die ausnahmsweise weder altklug noch niedlich wirkt. Und sie hat, zusammen mit dem Kameramann Gernot Roll, eine Bildersprache gefunden, die der Versuchung des Kitsches zwei Kinostunden lang widersteht. Das ist mehr, viel mehr, als man von einem deutschen Debütfilm erwarten kann.
Die schönste Szene des Films spielt in einer Kirche, in einem Gottesdienst für Taubstumme. Der Pfarrer vorn am Altar stimmt "Lobet den Herrn" an, und die Menschen auf den Bänken sprechen den Text mit ihren Händen nach. Da ist es, als könnte man diese Hände singen hören. Und man wünschte, man wäre mit dabei.
© Andreas Kilb