Jazzclub - Der frühe Vogel fängt den Wurm
Jazzclub – Der frühe Vogel fängt den Wurm
Oliver Rahayel, film-dienst, Nr. 8, 15.04.2004
Wie überlebt man in Mülheim/Ruhr, wenn man den Jazz liebt, aber kein Geld hat? Man schuftet sich wund und spielt abends trotzdem in einem Club. Dass dieses Schicksal ganz und gar nichts mit Musikerromantik zu tun hat und schon gar nichts mit Tragik nach Art eines Charlie Parker oder John Coltrane, zeigt Helge Schneider in aller Ausführlichkeit: Ein Leben als Jazzmusiker in Mülheim/Ruhr bedeutet umfassende Tristesse. Niemand interessiert sich für diese Musik, nicht mal die eigene Freundin, erst recht nicht die wenigen Gäste, die sich manchmal in die schäbige Kneipe verirren, in der Teddy und seine beiden Mitmusiker täglich spielen. Um nicht zu verhungern, steht er nachts um vier Uhr wieder auf und trägt Zeitungen aus; natürlich regnet es dann in Strömen. Danach hilft er einem Fischverkäufer, was schleppen bedeutet, Fisch verkaufen, sauber machen, während die Herrschaften in der Sonne liegen. Anschließend heißt es, sich in kürzester Zeit umzuziehen, die Tiraden der Freundin über sich ergehen zu lassen, dem Nachbarn durch den Türspion ins Auge zu schauen – und ab in den Club.
Aber Teddy hat ein sonniges Gemüt und immer einen Scherz auf den Lippen. Es genügt ihm, in wilden Träumen von Zustimmung und Anerkennung zu schwelgen. Weniger gut haben es die Figuren, die ihm begegnen. Da ist der verwahrloste, neugierige Nachbar, der, ärmelloses Unterhemd über üppigem Bauch, nach jedem "So ein Spinner" einen Kurzen zu sich nimmt. Oder der Obdachlose, mit dem Teddy minimalen Small-Talk führt. Oder der Kneipier, dem das Wasser bis zum Hals steht. Alle anderen Bewohner von Mülheim/Ruhr bewegen sich mehr oder weniger lebendig durch die sommerliche Einöde der Fußgängerzone und kaufen irgendetwas. Abends, wenn der Kaufrausch abgeebbt ist, liegt die Fußgängerzone tot da. Rasch erkennt man: Mülheim/Ruhr ist überall. Insofern hat Helge Schneider einen ziemlich bezeichnenden Film über das Leben in Deutschland gedreht. Ohne den Impetus eines Ulrich Seidl, der die Tristesse zum Leitthema seines Werkes und zum allgemeingültigen Österreich- Bild erhebt, aber auch ohne, dass die Unwirtlichkeit einfach nur vorkommt, als schön schäbige, sich authentisch gebende Kulisse. Hier ist die Tristesse eines beliebigen deutschen Nachkriegsortes mittlerer Größe schlichtweg existent, sie wird er- und gelebt, und niemand scheint auch nur daran zu denken, diesen Zustand in Frage zu stellen – höchstens in Träumen. Deshalb gibt es auch keine Dramaturgie, keine Exposition, die ein Problem aufwerfen, und keinen Plot, der zu einer Auflösung geführt würde. Trotzdem wirkt der Film ernsthafter als mancher vorherige von Helge Schneider, die eher exzessive Albernheiten zelebrierten. Es gibt kleine Szenen mit Anfang und Ende, die den Blick fokussieren, etwa die des Bassisten Jimmy, der sich gezwungen sieht, sein Instrument zu verkaufen, mit dem er schon Duke Ellington und Miles Davis begleitete. Als ein gut betuchter Käufer aber den Kontrabass als Blickfang im Garten, als Blumenkübel nutzen will, verlässt Jimmy das schmucke Häuschen fluchtartig – zusammen mit seinem Bass. Diese Episoden mögen etwas ungelenk inszeniert wirken, sind dafür aber umso treffender geschrieben und gespielt.
Besonders bemerkenswert aber sind all jene Szenen, die es so nur bei Helge Schneider gibt, etwa wenn er fünf Minuten auf die Straßenbahn wartet (und die Zuschauer mit ihm), oder sich die Tastatur des Flügels in seiner Sonnenbrille spiegelt, ein komplettes Jazzstück lang. Das wirkt improvisiert wie vieles in dem Film, und ist dennoch großartig, so wie die Jazzmusik, den Schneider selbst komponiert und eingespielt hat. Helge Schneider, der sich bescheiden "Quatschmacher und Musiker" nennt, aber ebenso virtuos eine außerirdische Udo-Lindenberg-Parodie zum Besten gibt, wie er furios auf diversen Instrumente spielt, ist inzwischen in einer Liga angekommen, in der er mit Jazzgrößen wie Jimmy Woode und dem Schlagzeuger Pete York auf Konzerttour geht – und sie anschließend in seinen Film einlädt. Dass der Film durchaus autobiografisch verstanden werden kann, ist Schneider klar; Ähnlichkeiten werden nicht geleugnet. Am schönsten daran ist, dass Helge Schneider über sein Leben in Mülheim/Ruhr herzlich lachen kann.