Schattenboxer
Schattenboxer
Rudolf Worschech, epd Film, Nr. 3, März 1993
"Schattenboxer" ist ein deutscher Krimi, und doch ist in ihm die Welt nicht mehr in Ordnung. Die Bedeutungen von Recht und Unrecht haben sich verschoben, es gibt keine klare Trennung mehr zwischen denen, die auf der einen, und denen, die auf der anderen Seite des Gesetzes stehen. Und nach den Buchstaben des Gesetzes fragt in diesem Film sowieso keiner mehr. Vollkommen gleichberechtigt erzählt "Schattenboxer" von den kleinen Ganoven, die abkassieren wollen, und von den Polizisten, die das schon lange tun.
Eddie hat nur noch wenige Tage im Knast, und die setzt er auch nicht aufs Spiel, als ihn ein Mithäftling rüde anmacht. Ein Schwarzafrikaner setzt sich für ihn ein, schlägt sich für ihn. Denn der hat nichts zu verlieren: in wenigen Tagen wird er nach Ghana abgeschoben werden, wo ihm wegen Fahnenflucht die Todesstrafe droht. Aus dem Gefängnis entlassen, sucht Eddie seine Freunde auf: Guido, der für einen entscheidenden Kampf im Kickboxen trainiert, und Tayfun, der Autos manipuliert; die drei waren einmal eine Gang, die "Catboys". Eddie überzeugt sie, Festus, den Schwarzafrikaner, zu befreien. Die drei haben genaue Vorstellungen von der Moral.
Mit der Abschiebung sind die Polizisten Timpe und Rasselin betraut, und die nehmen es nicht so genau: von ihren Flügen bringen sie Rauschgift mit, das sie unbehelligt durch den Zoll schmuggeln können. Bei der Flugabfertigung versucht Festus zu fliehen, die Polizisten schnappen ihn zwar, doch weigert sich das Personal, gefangene Fluggäste zu befördern. Um Festus Ruhigzustellen, injizieren sie ihm auf der Toilette ein Beruhigungsmittel. Diese Beiläufigkeit, diese lapidare Erzählweise ist eine der vielen Stärken von "Schattenboxer". Der Film problematisiert nicht die Abschiebungspraxis, sondern sieht nur genau hin und erkennt ihre Unmenschlichkeit. Dazu genügen ihm wenige Sekunden, ein paar Einstellungen. Auf der Toilette stellen die maskierten Eddie und Tayfun die Polizisten und nehmen den narkotisierten Festus mit – und einen Geldgürtel mit 10.000 Dollar für die Drogengeschäfte der Abschiebebeamten. Festus stirbt auf der Flucht an der injizierten Überdosis, und die drei planen den nächsten Überfall auf die Polizisten.
In "Schattenboxer" gibt es keine Guten und keine Bösen, schon das unterscheidet diesen Film von genreüblicher Fernsehunterhaltung (auch wenn der NDR mitproduziert hat). Er hat eine Genauigkeit der Beobachtung, die ohne dieses Schema auskommt, und zeigt seine Figuren voller Sympathie und Wärme: Eddie, der Werte wie Freundschaft entwickelt, Guido, dem die Freundin davonläuft, weil er ein loser ist, und Tayfun, der spontan hilft. Rasselin, der korrupte Bulle, ist ein Gescheiterter, ein Einsamer, eine manchmal mitleiderregende Gestalt. Er liebt sein Kind und kauft ihm ein Mountainbike, doch verweigert ihm seine geschiedene Frau den Besuch. Christian Redl, den man öfter im Kino sehen möchte, spielt Rasselin ganz verhärmt als unauffälligen Biedermann, aus dessen Maske ganz plötzlich die Gewalt ausbrechen kann. Die Welt der Figuren von "Schattenboxer" ist trist, so öde, daß verständlich wird, warum alle hinter dem großen Geld her sind. "Schattenboxer" spielt zwar in Hamburg, doch zeigt er nichts Typisches von dieser Stadt, keine Postkartenansichten, sondern nur ihr graues Alltagsgesicht, eine Hinterhofwerkstatt, ein schäbiges Hotelzimmer, in dem sich Eddie versteckt hält, das Hinterzimmer einer Videothek, vollgestellt mit Hehlerware, eine leere Bar, trostlose Amtsstuben, Rasselins spießige und unaufgeräumte Wohnung, durch deren Wände die Geräusche und die Musik der Nachbarn dringen.
In dieser Welt können aus den Jägern sehr leicht die Gejagten werden. Eddie, Tayfun und Guido gelingt zwar ihr nächster Überfall auf die Polizisten, doch Timpe erkennt Guido anhand der "Catboys"-Tätowierung auf dessen Oberarm, und die Polizisten machen Jagd auf die drei. Rasselin erschießt Guido kaltblütig im Umkleideraum der Sporthalle, wo sein entscheidender Kickbox-Kampf stattfinden soll, und Eddie versucht, sich in die Türkei abzusetzen. Am Flughafen wird er aber von Rasselin erwartet. Eddie lässt ihn ausrufen und ersticht ihn. Er kann unbehelligt in sein Flugzeug steigen.
Einen solchen Showdown mit diesem Ausgang hat es selten gegeben im deutschen Film, weder im Fernsehen noch im Kino. "Schattenboxer" wirkt wie ein Versprechen auf einen Neuanfang im deutschen Kriminalfilm. Er ist das Spielfilmdebüt von Lars Becker, der zuvor ein Fernsehspiel und einen Dokumentarfilm gedreht und zwei Bücher, Krimis natürlich, geschrieben hat, und dennoch vollkommen routiniert inszeniert. Becker erzählt gradlinig und ökonomisch, er beherrscht vor allem die Parallelmontage und lässt die zwei Erzählstränge des Films immer wieder aufeinanderprallen. "Schattenboxer" macht Lust auf die nächsten Filme dieses Regisseurs.