Die Abwesenheit
Gehen, gehen, gehen!
Norbert Grob, Die Zeit, 04.03.1994
Eine wunderbar fragile Stimmung strahlt dieser Film aus, eine poetische Mischung aus konkreter Präsenz und somnambulem Zauber. Mal möchte man einfach den Landschaften nachsinnen, die Handkes Protagonisten durchwandern, der Aura all dieser Bäume, Wiesen und Felder, dieser kurzen Anhöhen, dieser weiten Ebenen zwischen Südfrankreich und Nordspanien. Mal möchte man am liebsten die Augen schließen und den Worten lauschen, die – anders als sonst im Kino – nie eine Handlung stiften, eher eine spontane Laune formulieren oder einen alten Traum oder eine zu lange unterdrückte Erinnerung. Und dann möchte man oft auch bloß staunen, wie es da unentwegt ums Ganze geht, aber so beiläufig in Szene gesetzt, als wäre alles ganz zufällig gefügt.
Diese Verführung zum lustvollen flanierenden Wahrnehmen, das eher auf Erschütterung eigener Vorstellungen aus ist, nie auf Bestätigung des Gängigen, wirkt in der momentanen Kinosituation wunderlich, ja fremd. Das Kino ist wieder zu einem Jahrmarkt der Zerstreuung verkommen. Vielleicht muss man ja für den neuen Godard, den neuen Rivette, den neuen Wenders andere, konzentriertere Umgebungen schaffen. Doch wo und wie, wenn es selbst in den Filmmuseen gang und gäbe ist, Gummibärchen und Nüsse zur Cola zu konsumieren?
Das Fragile, Somnambule dieses Films, der Zauber seiner beiläufigen Arrangements, ist selbstverständlich nur ein ästhetischer Trick. Im Innersten, Handke hat das von Bresson, sträubt er sich "nicht gegen das Wunderbare", sondern befiehlt "dem Mond, der Sonne" und entfesselt "den Donner und den Blitz".
Ein alternder Kalligraph, ein schwarzer Soldat, ein melancholischer Spieler, eine junge Frau: Eines Tages treffen sie sich auf ihrem Weg von der Stadt in die Natur und bleiben zusammen: gehen, schauen, reden, sinnieren, träumen. Alle haben sie etwas aufgegeben: Der Alte wird nicht mehr schreiben, der Soldat nicht mehr kämpfen, der Spieler nicht mehr spielen, und die Frau wird endlich zu ihrer Bestimmung finden. Dem Alten, der die anderen zunächst wie ein Guru zu führen scheint mit seiner Suche nach der "Stille", den "leeren Orten", wirft sie schließlich vor, all das, was er als ursprünglich und echt ausgebe, sei doch bloß verlogenes Getue – so, als arrangiere er nur Kulissen für einen Film. Ein Hinweis auch darauf, dass Handke selbst sich seinen Jüngern als Guru zu verweigern sucht?
Die Worte, die Handkes Helden gebrauchen, sind wie Monologe angelegt, wobei jeder seine eigene Sprache spricht – Spanisch, Kreolisch, Deutsch, Französisch. Was ihrer Rede einen überaus artifiziellen Gestus verleiht. Jeder spricht anders, aber alle verstehen. Handke untergräbt damit dieses Stupid-Selbstverständliche, das den Bildern im Kino so oft eine vordergründige Dramatik unterlegt: diese simple Geheimtuerei, die mit dem Mythos des Alltäglichen den Realitätseindruck stärkt. Als kämen die Bilder erst, wenn die Sätze gehen. Bei Handke dagegen kommen die Sätze, wenn auch die Bilder da sind.
Seine Helden bewegen sich einfach voran, und indem sie sich bewegen, stiften sie erzählerischen Sinn. "Gehen, gehen, gehen!" Gehen durch Landschaften als Existenz: Verlockung und Irrtum zugleich. Das Abenteuer bietet allein der Weg, das Tun selbst; das Resultat dagegen bleibt eine Chimäre. Was für die Suche gilt, gilt wohl auch für das Künstlerische: fürs Malen, Schreiben, Filmen. So endet die Reise der vier Wanderer auch nicht, sie findet kein Ziel, sie bricht einfach ab. "Wer sucht, der findet nicht."
Der Höhepunkt des Films, Feuerbad und Fazit zugleich: wie die Frau des Schriftstellers am Ende ihrem Mann nachredet in einem Cafe an der spanischen Küste – voller Trauer zu Beginn, die dann in Rage, Hass und Wut umschlägt. Ein künstlerischer Parforceritt auch von Jeanne Moreau, en face und ohne Schnitt gedreht, eine endlose Tirade im Kampf gegen den Wind, das Rauschen des Meeres, das Getöse der Nato-Hubschrauber, die über die Küste hinwegjagen.
Ein wenig wirkt dieser Schluss nach wie eine Revision der Träume zuvor. Wo es doch möglich schien – als Verheißung, dass neue Kraft erwächst, sofern man dem Üblichen sich verweigert, sofern man auf seiner Suche vor allem der Suche sich widmet. So bleiben am Ende, wie in den besseren Bildern, Romanen, Filmen ja stets, nur "Widersprüche und Inkonsequenzen": Wer "den Hass, die Verzweiflung, das Chaos, die Liebe oder das Nichts in rasendem Brausen erlebt, wer sich bei jeder Regung aufzehrt, mit und in jedem Zustand allgemach erstirbt, wer nur auf den Höhen zu atmen vermag, wer immer einsam ist, besonders wenn er mit anderen verkehrt; wie sollte er ... zu einem System erstarren?"
"Die Abwesenheit" ist ein Film, der die Leinwand nie als Fenster nimm, um den Blick in die Weite zu öffnen, sondern eher als Rahmen, um den Blick auf das Eigentliche zu konzentrieren. Ein Film aus überwiegend starren Bildern; keine Fahrten, wenige Schwenks, aber einige zittrige Szenen, photographiert mit der Handkamera. Auf die Frage, wieso er dies in seine Arbeit integriert habe, antwortete Handke nach der Premiere in der Berliner Akademie der Künste: "Zwei-, dreimal muß es in einem Film auch zittern!"
Die Brüche im Entwurf sorgen für irritierendes Staunen, wieder und wieder. Nicht zuletzt darüber zielt Handkes Film auf das Äußerste, das im Kino möglich ist: auf das Abwesende im Präsenten, das Unsichtbare im Sichtbaren, auf die Aussage des Ungesagten.
© Norbert Grob