Der Flieger
Der Flieger
Bettina Thienhaus, epd Film, Nr. 3, März 1987
Die Geschichte spielt in Coburg: fränkische Stadt mit Fachwerk, Tradition, Bier und drüberthronend die Veste. Eine Touristenidylle, aber längst hat die Industrie das Sagen bei der Stadtgestaltung, werden alte Häuser zugunsten neuer Scheußlichkeiten abgerissen. Die kleinen Betriebe kämpfen ums Überleben, und ein Kürschner wie Herr Klinger, der noch solide "deutsche Wertarbeit" herstellt, kann sich gegen den in Billiglohnländern gefertigten Ramsch nicht durchsetzen. Die Menschen sind blind für Qualität. Logisch, daß da auch die Kinder nicht mehr das Handwerk der Eltern erlernen, den Betrieb übernehmen wollen. Bernd, der Sohn vom alten Klinger, der Kürschner nicht lernen wollte und Pilot nicht werden konnte, ist Lehrling bei einer großen Versicherung. Er fällt durch intelligente Fragen zu ungewöhnlichen Schadensfällen auf; was dem Ausbilder indes verborgen bleibt, ist deren tieferer Sinn: Bernd berät regelmäßig Kunden, kleine Leute allesamt, wie man einen Schaden melden muß, damit die Versicherung zahlt. Das gefällt den Geschädigten so gut wie den Zuschauern, denn "Versicherungsbetrug ist ein Nationalsport", sagt Bernds Chef gequält, als man dessen Aktivitäten aufdeckt. Aber da ist Bernd schon ein Leitbild der Coburger Jugend.
Bernd ist Drachenflieger und träumt davon, in den bolivianischen Anden einen Flugrekord aufzustellen um ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen. Dieser Traum, angenehm irreal, bildet den beschaulichen Hintergrund seines Alltags. In diesen Alltag bricht Rita ein, Reporterin, verbittert nach einer verpfuschten Liebe in Berlin, ansonsten mit Eigenschaften ausgestattet wie Neugier und Gespür für Sensation. Sie nimmt den unerfahrenen Bernd unter ihre Fittiche, auch, ganz nebenbei, erotisch, entlockt ihm den Andentraum und füllt damit das "Sommerloch" der Coburger Zeitung. Die Stadt entdeckt ihren möglichen Helden, es finden sich Sponsoren, und Bernd sieht mit wachsendem Entsetzen seinen Traum wirklich werden. Am Ende fliegt er, von gleichgültigen Inkas beobachtet, mit seinem Drachen ins Ungewisse.
Vom Fliegen ist viel die Rede im "Flieger", aber vom Fliegen, dieser vielschichtigen Metapher, erfährt man wenig. Was eine Geschichte mit Haken und Ecken, mit Aufwinden und Turbulenzen hätte werden können, die Geschichte schmerzlicher Erfahrungen eines Heranwachsenden – das ist zur romantischen Success-Story geraten. Die Neugier des Filmemachers für seinen Helden ist so oberflächlich wie die der Reporterin. Er fragt sich nicht, was in diesem lieben, eher angepaßten Jungen eigentlich vorgeht, wie seine Träume aussehen, was ihn bewegt. Und die Irritationen sind so schwach, daß sie das Bild vom netten Jungen, der seinen Wunschtraum packt, kaum ankratzen.
Wieviel einfühlsamer und widerborstiger war da Keuschs Erstlingsfilm "Das Brot des Bäckers" (1976), ein fränkischer "Heimatfilm" mit Widerhaken, der sich damals in den Kinos mit Erfolg quer stellte gegen die ideologisch ausgefeilten Arbeiter-Filme aus Berlin. Viele Motive aus dem "Das Brot des Bäckers" tauchen auch im "Flieger" wieder auf, aber weniger überzeugend und gelegentlich in rein dekorativer Funktion. Dem "Flieger" fehlt ein wirklicher Konflikt und ihm fehlt ebenso inszenatorische Schärfe. Etwas mehr Mut zur Satire, zum grellen Biß, zum Schock hätten ihm gut getan.