Der letzte Mann
Der letzte Mann
Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 11.2.1925
Dieser Film der Ufa-Lichtspiele (...) ist das zur seltenen Einheit gewordene Werk des Bilddichters, der Regie und der Darsteller. Carl Mayer, der Dichter, hat eine Handlung ersonnen, die nicht ins Optische erst übersetzt werden muß, sondern aus ihm heraus sich gebiert. Man kann sie erzählen, aber die Sprache ist ein schlechter Behelf, wo die Folge der Bilder, und sie allein, spricht und erzählt, wo das Auge hört und das Wort eine störende Illustration nur wäre.
Immerhin: Die Geschichte hat eine Fabel, die ohne Bild selbst sich trägt. Sie ist eine jener Geschichten, die der frühe Dostojewski hätte schreiben können, der um das Schicksal der "Armen Leute" wußte – eine Geschichte aus Traurigkeit, Lächeln und Erbarmen. So lautet sie: Der alte Portier des Hotels Atlantic hat einen wundervollen tressenverzierten Rock, er empfängt die vornehmen Gäste an dem Eingang des Palastes, den er repräsentiert, und schultert er auch selber die Koffer, weil die Pflicht es befiehlt, so ist er doch ein König, ein Herrscher in seinem Reich. Das ginge so fort bis in die Ewigkeit, wenn das Alter die Könige verschonte und der Geschäftsführer eines Tages nicht bemerkte, daß die schweren Koffer kräftigere Schultern verlangen. Und nun geschieht das Schlimme, das kaum auszudenken ist: der König wird zur Abdankung gezwungen und in die – Toilette versetzt. Der früher Gnaden verteilte, muß jetzt mißlaunigen Herren das Handtuch reichen, der früher an der Drehtüre regierte, ist jetzt der "letzte Mann", ein gedemütigter Potentat. Schließlich wird zuhause sein obskurer Aufenthalt bekannt, im Mietskasernen-Hof spottet man des Heimkehrenden, und die Familie verstößt den Verstoßenen. Er wankt nachts in das Hotel zurück, in die Toilette auf seinen Stuhl, wo er einschlummert.
Hier hätte die Geschichte ihr Ende, wenn der Autor zu glauben vermöchte, daß die Realität Wirklichkeit schon bedeutet und das zufällige Ende hier sich vermessen dürfte, als das Letzte zu gelten. Doch er glaubt es nicht, und fügt darum der Geschichte mit einer Freiheit, die nach unserer Überzeugung (im Gegensatz zu anderen Meinungen) jede Bewunderung verdient, ein Nachspiel an, das die verletzte Gerechtigkeit wieder herstellt, ein märchenhaftes Nachspiel, das so unglaubwürdig ist, daß man es eben nur zu glauben vermag. Es beruht auf einen Zufall, der freilich mehr an Vorsehung enthält, als die zufälligen Verkettungen der Realität. Dank dieses providentiellen Eingriffs des ironischen Autors wird der letzte Mann durch eine Erbschaft zum ersten erhöht, zu einem Krösus, der in der Scheinwelt des Atlantic-Hotels mit seinem einzigen Gefährten, dem Nachtportier, raffkehaft-herrlich soupiert, den Nachfolger in der Toilette mit irdischen Gütern überhäuft, Trinkgelder unter den Livrierten verteilt, und von ihren Bücklingen geleitet, vierspännig davonrauscht in die Stadt.
Eine Dichtung in Bildern, wie gesagt, in Bildern, die aus sich die Fabel entlassen, statt von ihr erst bestimmt zu sein. Ihre Abfolge und ihre Gestaltung, das Werk des Regisseurs Wilhelm Murnau, gibt das Letzte, das hier zu geben ist, man kann das Geschehen nicht ablösen von ihnen, es wohnt ihnen inne, die textlose optische Entfaltung selber ist zur einzig gemäßen künstlerischen Form geworden. Die unvermittelte Darstellung des Gegensatzes von Hotelvestibül und Mietskaserne redet ihre eigene Sprache, die Architekturen drücken ohne Kommentar das Gemeinte aus, die Ineinanderreihung der Situationen gestaltet mit an dem Sinn; Kunstmittel, über die nur der Film verfügt, erlangen konsumtive Bedeutung. Der Alte liest seine Kündigung: man sieht, wie die Buchstaben verschwimmen, und ihr Flimmern sagt seine Gefühle aus; der Alte trinkt im noch einmal erborgten Glanz des tressenverzierten Rockes bei der Hochzeit einen Rausch sich an: man sieht ihn im Traume vor den Gästen und auf der Straße einen ungemeinen Koffer federleicht in die Lüfte schwingen und lächelnd wie ein Akrobat dann sich entfernen. Man sieht die kitschigen Hochzeitsgäste, deren Gesichter an Buben-Photographien gemahnen, und vermißt den Abstand zwischen der unbestreitbaren Realität und der rührend-gauklerhaften Monarchenexistenz des Alten, man sieht und fragt nach nichts anderem, denn das Geschaute birgt ganz den Gehalt. Wenn eines zu erinnern wäre, so dies: daß das Nachspiel noch unwirklicher und verspielter hätte verfaßt sein müssen, um als märchengleiche Vorwegnahme einer anderen Welt zu erscheinen.
Emil Jannings ist die Mitte der Dichtung, sein Portier eine Gestalt, die unvergeßlich bleibt. Wie er den Bart sich streicht und mit Grandezza majestätisch entschreitet, wie er zusammenbricht, als man das Ehrenkleid ihm entreißt, wie er in dem Rock, der ihm nicht mehr gehört, kläglich hinwankt, als sei er in fremde Hülle gewandet, wie er, ein Exilierter, in der Toilette zögernd seine schamhaften Funktionen versieht und wie er dann später in seiner hilflosen Erlöstheit den Gefährten bewirtet und die Unwürdigen vertraulich beschenkt – das ist gestaltet ohne Rest, ist Kunst, die verzaubert, weil sie den Augenblick ganz erfüllt und durch ihren Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten auch das Geringste noch einbezieht. Dirigiert von der Regie, halten die anderen Darsteller sich ihm würdig zur Seite. Der Geschäftsführer Hans Unterkirchers, um nur einige zu erwähnen, besitzt die seinem Beruf angemessene Schnödigkeit. Hermann Vallentin verleiht einem Gaste das übliche unwirsche Air, und Georg John ist der stumme, müde, gute Nachtportier, der auch als Hotelgast noch aufspringt, wenn der Geschäftsführer naht.
Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.