Mein langsames Leben
Mit Vorsicht genießen
Merten Worthmann, Die Zeit, 27.09.2001
Wir haben im Kino nicht viel Zeit, eine Figur kennen zu lernen. Eineinhalb, manchmal zweieinhalb Stunden. Um diesen Mangel auszugleichen, denken sich Autoren und Regisseure möglichst dichte, sprechende Szenen aus: Erkennungseffekte zum schnelleren Ausmalen eines Charakters. Je dichter die Szenen, desto deutlicher die Figuren. Aber vielleicht verliert eine Figur ja auch, indem sie an Deutlichkeit gewinnt. Oder der Zuschauer verliert: das Interesse - weil er plötzlich den Bauplan einer Figur begreift. Das kann sie ums Leben bringen. Sie handelt nur noch nach Schema und ist damit zum Abhaken freigegeben.
Angela Schanelec begegnet dem Problem mit der Zeitnot andersherum. Bevor sie auf die Schnelle zu viel erzählt, bremst sie lieber ab und zeigt nur Bruchstücke. Sie versucht gar nicht erst, einen Charakter mit Werkzeug aus der Drehbuchschule zügig aus dem Boden zu stampfen, um ihn dann passgenau in eine Geschichte zu setzen nach den Vorschriften dramaturgisch optimierter Zuschauerlenkung. Sie spielt, über Bande, mit der natürlichen Fantasie jedes Zuschauers. Der Zuschauer bastelt ja gleich im Geiste drauflos, wenn er Filme sieht mit Menschen drin, unwillkürlich zieht er Schlüsse, sucht Motive, verknüpft und vermutet in den Raum hinein. Angela Schanelec gibt ihm dafür viel Freiheit und Zeit. Denn ihr kommt es nicht nur auf den Gegenstand an, sondern auch auf den Blick, der ihm gilt. Jede Einstellung zeigt etwas; aber jede Einstellung erzählt auch vom Willen, etwas zu erfahren. Angela Schanelec verfugt keine Bausteine des Wissens, sie arrangiert Inseln des Interesses.
Zwei Frauen sitzen in einem Cafe, durchs Fenster leuchtet der Sommer herein. Sophie verlässt Berlin für ein halbes Jahr, Valerie bleibt da. "Mein langsames Leben" bleibt auch da, einen Sommer und einen Herbst lang in Berlin, hält sich nur kurz zwischendurch einmal in Paris und einmal in Süddeutschland auf. Am Ende ist Sophie wieder da. Sie wartet im Cafe auf Valerie, die nicht kommt, und redet mit dem Mann am Nebentisch über ihr halbes Jahr in Rom. "Irgendwie war ich die ganze Zeit ein bisschen aufgeregt und ein bisschen gelangweilt, immer in Erwartung."
Mit wenigen Sätzen faltet Sophie ihre Erfahrung zusammen. Das ist so ihre Art. Sobald ein Label passt zu einer Episode Leben: draufgeklebt, abgeschlossen. Valerie ist ganz anders, sie schließt nichts ab, sondern hält ihre Tage offen. Sie führt das langsame Leben. Zumindest sieht es so aus. Genaues weiß man nicht. Immer in Erwartung - so treibt man auch durch Angela Schanelecs Film. Immer will man mehr wissen, selten bekommt man das Passende gezeigt. Stattdessen neue Schnipsel Alltag; die jedoch in aller Ausführlichkeit. Insgesamt geschieht sehr wenig über 85 Minuten hinweg. Doch mit ihrer Mischung aus scheinbaren Nebensächlichkeiten und angedeuteten Hauptsachen erreicht Schanelec eine faszinierende Dichte, die auch deshalb so erstaunlich ist, weil man sie kaum für möglich hält - gemessen am Grad der Luftigkeit, die sich die Regisseurin beim Zusammenfügen der Einzelteile erlaubt. Der Film entnimmt Stichproben aus einer Zwischenzeit. Die Kamera sieht in die Szenen hinein, als handele es sich dabei um wertvolle Fundstücke, die es genau zu studieren gilt. Was man nicht sieht, aber spürt, sind die Auslassungen. Ein Schnitt trennt Wochen, manchmal Monate. Die Augenblicke der größten Aufregung werden ausgespart. Man bekommt nur ihren Vorschein zu sehen oder ihre Nachwirkungen. Valerie ist bei Marie und ihrer neunjährigen Tochter Clara eingezogen. Maries Mann Alexander hat eine Zweitwohnung und ein Verhältnis. Valerie beginnt eine Beziehung mit Maries Bruder Thomas. Thomas fährt nach Paris, um Fotos zu machen, Valerie nach Süddeutschland, um ihren Vater im Krankenhaus zu besuchen. Maries Kindermädchen Maria heiratet, mit 21 Jahren. Marias Vater sagt: "Ich denke manchmal, dass ich gar nicht so viel von ihr weiß; aber man kann über einen Menschen nicht alles wissen."
Das nüchterne Leuchten
Es gibt ein paar Kinder in "Mein langsames Leben" und ein paar ältere Menschen. Dazwischen hocken die thirtysomethings, um die es eigentlich geht. Der Schatten der Gedämpftheit hat sich über ihr Leben gelegt, sie gleiten in die üblichen Bahnen hinein und spielen Mensch ärgere Dich nicht, wenn es die Kinder so wollen. Schwer zu sagen, ob sie unzufrieden sind oder nachdenklich werden. Jedenfalls denkt der Zuschauer nach, weil im Grunde mit jeder Szene die Figuren befragt werden. Nur selten redet jemand so am Stück wie Linda, eine Bekannte, die Thomas und Valerie auf einer Parkbank treffen, unter einem rauschenden Baum im Sonnenlicht. Lindas Schwester hat einen Afrikaner geheiratet, und dessen arglose Fröhlichkeit macht sie ärgerlich: "Das Problem ist, dass ich merke, wie ich bin, und so nicht sein will." Aber wie will sie sein? "Wenn man erst mal Kinder hat, dann weiß man schon eher, was zu tun ist."
Kinder, Haus und Brotberuf, das alles sorgt für Sicherheit, aber in "Mein langsames Leben" wird alles ein wenig aus den Verankerungen gelöst, um Platz für den Zweifel zu schaffen. Und dafür braucht Schanelec gar kein großes Drama zu entfesseln. Bei ihr sind der Zweifel und das Innehalten Fragen der Montage. Zwischen den Bildern wächst die Unruhe; in den Bildern dagegen nimmt das Leben seinen Lauf wie immer. Vielleicht heißt "langsames Leben" auch, dass Verstehen und Verarbeiten in einer anderen Geschwindigkeit stattfinden als die Ereignisse selbst und dass man davon mehr sieht, wenn man auch ins Unterholz der Tage blickt und nicht nur auf die Lichtungen, wo alles klar zu erkennen ist. Aus den eindeutigen Momenten stiehlt sich Schanelec schnell hinaus und nimmt ihnen dadurch die Eindeutigkeit. In der einen Liebesszene des Films zieht Valerie sich aus und legt sich still aufs Bett, Thomas sieht ihr still dabei zu. Und Schnitt. Die Verkürzung betont das Tastende, den bloßen Versuch einer Beziehung. Im Gespräch werden die Menschen schon einmal deutlicher. Aber auch das nur nebenbei. Denn Schanelec hat ihre Dialoge genauso geschickt alltäglich durchmischt wie ihre Bildfolgen.
Es ist eine große Vorsicht am Werk in ihren Filmen. Sie möchte ihren Figuren nicht zu nahe treten, was zunächst wie ein merkwürdiger Impuls wirkt angesichts von Figuren, die der eigenen Fantasie entsprungen sind. Niemand verliert die Fassung. In Gefühlsausbrüchen sieht die ehemalige Schauspielerin Schanelec immer nur die Standardsituationen des großen Auftritts, deren Mutwilligkeit die Balance stört. Wenn eine Figur aus sich herausgeht, dann am ehesten beim Tanzen. Da kann die Kamera minutenlang zuschauen. Das war schon in "Plätze in Städten" so, dem Film vor "Mein langsames Leben". An "Plätze in Städten" erkennt man allerdings auch die Gefahr von Schanelecs Ästhetik. Der Film zeigt Momente aus dem Leben der 19jährigen Mimmi, aber mit so delikater Vorsicht, mit so respektvollem Abstand, dass der eigentliche Gegenstand nie aus der Deckung hervortritt. Jede Einstellung weckt Interesse für ein Leben, in das dann kein Weg hineinführt.
Die Liebe zur Ellipse und den Hang zum Abstandhalten teilt Angela Schanelec mit ihren Kollegen Christian Petzold und Thomas Arslan. Alle drei haben an der Berliner Filmhochschule dffb studiert. Petzolds abenteuerlichste Auslassung war es, in seinem Film "Die innere Sicherheit" über das versuchte Familienleben von Ex-RAF-Terroristen den Terrorismus kein einziges Mal zu erwähnen. Arslans neuer Film "Der schöne Tag" zeigt in aller Ruhe die Begegnungen und Besorgungen einer jungen Frau über 24 Stunden hinweg. Wer die Filme dieser "Berliner Schule" sieht, kann darin einen ganz ähnlichen Umgang mit Raum und Zeit bemerken. In den Bildern scheint, trotz unterschiedlicher Kameraleute, das gleiche Licht zu herrschen - eine Art nüchternes, doch intensives Leuchten. Und auch der Blick auf die eigenen Stoffe ist vergleichbar; aus ihm ist alle Behauptung gewichen und in Beobachtung verwandelt.
Unter den drei Filmemachern wagt sich Angela Schanelec am weitesten in die offene Form. Ihre Handlungsgespinste sind am zartesten, weil sie die ausgewachsene Handlung scheut. Sie möchte an der Schwelle davor verharren, nur in Szenen hineinsehen wie durch fremde Fenster oder offene Türen. "Mein langsames Leben" ist, vor allem anderen, eine große Meditation über die Neugier. In einem Land, dessen Filmemacher fleißig Storylining nach Stromlinie lernen, ist das ein Segen. Vielleicht sollte jeder Regisseur einmal in seinem Leben einen Schanelec-Film drehen.
© Merten Worthmann