Bockshorn
Die Legende vom verlorenen Schulzengel
In einer frühen Erzählung hat Christoph Meckel eine seiner Gestalten die Erkenntnis formulieren lassen: "Leben ist das allen Gemeinsame. Der Hunger, aber nicht das Brot und die Sattheit, der Durst und das Wasser, aber nicht der Wein."
Auch Mick und Sauly, die beiden halbwüchsigen Helden von Meckels erstem Roman, "Bockshorn" (1973), sind betroffen von diesen Diskrepanzen. Auch ihnen fehlt das Elementarste: Bedingungen, die es ihnen ermöglichen würden, wie Menschen zu leben. Unglück, Kälte und Rechtlosigkeit erfahren sie in Baan, einer großen Stadt des Kapitals. Dort selbst "menschlicher Müll" in den Zwängen der Dingwelt dieses Babels. Heimisch nur das Gefühl des Unbehaustseins, der Entwurzelung. Mick und Sauly fliehen ans Meer, getrieben von der Hoffnung, die Freiheit einer unbekannten. Welt zu erleben. Botnango am Meer wird zur Stätte der Verheißung, zum erstrebenden Paradies. Die Flucht der Hoffnung wird zur Irrfahrt. Sie werden ins Bockshorn gejagt, jagen bald einem Phantom nach, dem angeblich verlorenen und verkauften Schutzengel Saulys. Dieses Trauma determiniert die Reise zu sich selbst und führt schließlich zum tragischen Ausgang. Das poetische Gleichnis dieser Fabel drückt sinnfällig Meckels Inspiration zum Schreiben aus: "Weil ich Gerümpel wegschaffen, Trugbilder einreißen und an ihre Stelle das Lied vom Ungenügen setzen will, das Lied von der Unruhe, vom Zorn und von den Verwüstungen durch die Zeit."
Diese hier nur kurz zu skizzierende innere Beziehung zu der literarischen Imagination Christoph Meckels wird im Film ohne Zweifel transparent und macht für mich einen nicht unerheblichen Reiz der Adaption aus. Behutsam wird die Erfahrung von Mick und Sauly zum Spiegel gemacht. Sie werden in ihrer Weltsicht nicht überfordert noch didaktisch korrigiert. Die damit zwangsläufig verbundenen Reduktionen, die natürliche Einengung des Horizonts, stimulieren die Phantasie des Zuschauers. Er sieht sich herausgefordert durch den verführerisch sinnfälligen Lakonismus manch einschichtiger Einsicht. (…)
Die emotionale Identifikation mit den beiden Helden bedeutet jedoch nicht die Übernahme ihrer Perspektive. Beyer und Plenzdorf gewinnen durch diese Differenz eine interessante Vieltönigkeit, schaffen eine zusätzliche Dimension für Reibungen und Impulse. (…)