Kiss and Run
Kiss and Run
Heike Kühn, epd Film, Nr. 10, 01.10.2004
Am Anfang ist es der Himmel. Emma und Max schweben ihm auf einer Wippe entgegen, mal hebt sie ab, mal er; dagegen kann auch die Frankfurter Hochhaussiedlung nicht an, in der die beiden aufgewachsen sind. Auf dem Boden angekommen, schenkt Max der zehnjährigen Freundin eine Glaskugel und einen Kuss. Dass Emma daraufhin weggelaufen ist, liegt dem 25-jährigen noch Jahre später auf der Seele. Nicht, dass er darüber reden würde, schon gar nicht mit der Kumpelfrau Emma, mit der er als Ganztagszyniker über Gott und die Welt und die Segnungen der Pornoindustrie quatscht, nur eben nicht über das scheinbar unerwiderte Gefühl, das seine Weltsicht prägt. Beziehungsunfähigkeit nennt Emma das, wenn Max mal wieder neben einer aufgewacht ist, an deren Namen er sich nicht erinnern kann. Aber Beziehungsunfähigkeit ist eben auch nur ein Wort, wenn man wie Max und Emma daran gewöhnt ist, einander in einem von Tag zu Tag fortgeführten infantilen Rededuell Punkte für die beste Pointe zuzusprechen und dabei nichts über sich zu sagen. Jedenfalls nichts, das erläutern würde, warum Max keinen Job hat und davon lebt, ein Versuchskaninchen für eine Frankfurter Klinik zu sein. Das komische Geplänkel in der tristen Umgebung, in der beide hängen geblieben sind, klärt auch nicht, weshalb Emma in einem Video-Verleih jobbt, während sie davon träumt, Schauspielerin zu sein.
Dafür verrät die Kamera, die Sebastian Edschmid für Annette Ernsts leichthändiges Spielfilmdebüt "Kiss and Run" in den engen Kulissen der Videothek zum Schweben bringt, woran Emma krankt: zu viele Bilder, zu viele Vorbilder, zu viele Spiegel, die an der Oberfläche bleiben. Ebenso frech wie medienkritisch ist die Szene, in der die Kamera Emmas Spiegelbild in den Scheiben eines schicken Frankfurter Glasturms auffängt und sie in Umkehrung der "Du darfst"-Werbung dick und zerbeult wiedergibt: Ich will so bleiben wie ich bin, dieser Satz gilt für Emma mit Sicherheit nicht.
Ken Duken variiert als Max, der Pornokenner, die Rolle des verunsicherten Halberwachsenen mit einer Schnoddrigkeit, die Raum für empfindsame Untertöne lässt. Maggie Peren ist leider auch in Annette Ernsts Film nicht die Schauspielerin, die sie als Emma gerne wäre. Dafür hat die junge Autorin, die bereits das preisgekrönte Drehbuch für Vanessa Jopps Film "Vergiss Amerika" geschrieben hat, ein untrügliches Gespür für die Sätze, die floppende Entjungferungen, nicht zu Stande kommende Schwangerschaften, eine drohende Hochzeit und andere Identitätskrisen nach sich ziehen.
"Kiss and Run" ist nicht immer so stimmig wie in den Szenen, in denen die Images einer konsumistischen Vorbildindustrie namens Hollywood konterkariert werden. Wie sollen Eigenliebe und Liebe gedeihen, wenn die Helden aus "Titanic" schon alle Gefühle im XXL-Format verbraucht haben? Überflüssig dagegen, dass der Gefühlsableiter Max immerzu mit einem Regenschirm herumrennt, erzählfaul die Stempel, die am Anfang auf die Figuren niedersausen und ihren Charakter quasi amtlich machen. Dennoch ist Annette Ernst ein originelles Kaleidoskop der Verwirrung gelungen, die jede Altersgruppe befällt, die noch nicht mit sich fertig ist: die Teenies und die Twentysomethings und all die anderen, die es nicht aufgegeben haben, über die Fährnisse eingefahrener Beziehungen nachzudenken.