Kanak Attack
In den Straßen von Kiel
Daniela Sannwald, Frankfurter Rundschau, 15.11.2000
Nach wenigen Minuten hat einen dieser Film bereits in einen Zustand versetzt, in dem man bereit ist, ihm so ziemlich überall hin zu folgen: von Kiel nach Istanbul und zurück, in den Knast, ins Bordell und in triste, neonbeleuchtete Männercafés. "Kanak Attack" ist ein Angriff auf die Seh- und Hörorgane, und er scheint die Ästhetik einer Subkultur gleichzeitig zu reflektieren und zum ultimativen Trend zu erklären: Schon lange nicht mehr war ein Drogenhändler, Zuhälter, Schläger und schließlich auch Mörder so attraktiv wie Ertan, der Held dieses Films.
Und schon lange verfügte kein deutscher Film mehr über ein so klares ästhetisches Konzept, das noch dazu die Vorgänge, die dieser Film beschreibt, lakonisch und treffend visualisiert, anstatt den Stilwillen von Regisseur und Kameramann zu demonstrieren.
"Kanak Attack" begleitet den kriminellen jungen Deutschtürken Ertan ein Stück auf seinem Weg in den Untergang, und dabei führt er in eine Szene ein, deren Präsentationsformen längst zum Straßenbild in Berlin und Köln, Hamburg und München – und eben auch Kiel gehören, die aber für die meisten Deutschen ferner liegt als Antalya. Es ist eine von Männern beherrschte Szene, in der mitunter archaisch anmutenden Rituale das Sozialverhalten regeln, in der eine bestimmte Kleiderordnung herrscht und vor allen Dingen ein äußerst elaborierter Sprachcode, zu dem nicht nur Wortschatz und Grammatik, sondern auch ein bestimmter Duktus gehören.
Und so spricht Ertan mit flacher, gepresster, ein wenig heiserer Stimme in zwei Sprachen und in kurzen, von Obszönitäten durchdrungenen Sätzen, während er mit den Händen aggressiv und kraftvoll gestikuliert. Sein ständig hoch angespannter Körper signalisiert Aggression, seine ganze Haltung verrät, dass er jeden Moment mit einem Angriff rechnet und zurückzuschlagen bereit ist. Ertan und seine Gang bewegen sich elegant und zielstrebig durch ein fast gänzlich von Deutschen befreites Kiel, in dem selbst auf der Litfaßsäule für ein türkisches Unternehmen geworben wird. Ertan schlägt auf Hehler, säumige Schuldner und gegnerische Gangster ein und bringt danach sein perfektes Outfit schnell wieder in Ordnung: weißes Hemd und Hüfthose, taillierte Lederjacke und darüber die aktuelle Variante der Travolta-Tolle aus "Saturday Night Fever". Der kam 1978 ins Kino und war einer der ersten Filme, die Migrantenkultur zum Pop erklärten. Aber die Italo-Amerikaner aus Brooklyn wollten nichts anderes als mit dem WASP-Mittelstand verschmelzen, und so versuchten sie, besser auszusehen und besser zu tanzen als die Söhne der alteingesessenen Kleinbürger, um ihr WASP-Mädel zu beeindrucken. Selbstbewusstsein wurde am Wochenende zur Schau getragen, ansonsten waren sie die Underdogs in der Fabrik. Die Nachfolger der Italo-Kids sind die Homeboys aus der Hip-Hop-Szene, deren Trendsetter-Habitus kürzlich James Toback in "Black and White" porträtierte. Die aber setzen nicht mehr auf Anpassung, sondern auf "Respekt".
Der wird auch in "Kanak Attack" permanent eingeklagt und nicht erwiesen; und das führt zu Exzessen von Gewalt und schließlich zum Tod. Der Kölner Musterknabe Luk Piyes spielt Ertan, und nach allem, was man hört, ist er nicht nur schön, sondern auch noch klug; ein Jurastudent und Streetworker, der von seinen Klienten lernen musste, wie man sich eine Spritze setzt. Von denen hat er sich wohl auch noch einiges andere abgeguckt, denn im wirklichen Leben ist Piyes auf dem besten Weg in eine gebildete bürgerliche Mittelschicht wie viele Deutschtürken seiner Generation.
Lars Beckers Inszenierung ist schnell und elliptisch. Jump Cuts und Freeze Frames oder Zeitlupen raffen oder strecken die Zeit, die insgesamt rasend schnell vergeht, weil Ertans Ruhelosigkeit ihren Rhythmus bestimmt. Es gibt ein paar Stellen, an denen dieses Konzept nicht aufgeht, und zwar dann, wenn sich die artifizielle Sprache Feridun Zaimoglus, der am Drehbuch mitarbeitete, in den Vordergrund drängt. Zaimoglu hat zwar die "Kanak Sprak" der Kieler Migrantenkinder so kunstvoll verfremdet, dass sie feuilletonfähig wurde, aber seine Literatur hat mit dem Straßenslang der Szene nichts mehr zu tun. Sie wirkt im Rahmen dieses Films gestelzt und unauthentisch.
Der Rest von "Kanak Attack" aber, einschließlich des omnipräsenten kalten, blauen Lichtes und einiger surrealer Interieurs, tut das nicht. Er zeigt ein Phänomen, das man längst in Cafés, auf Schulhöfen und an Straßenecken beobachten kann, wenn etwa zwölfjährige Teenies "Ey, Alta" in ihre Handys brüllen oder sich mit komplizierten Handschlagsvarianten begrüßen, egal ob sie polnische, serbische, deutsche oder türkische Eltern haben: Die zweite und ganz bestimmt die dritte Migrantengeneration machen Mode.
© Daniela Sannwald