Land der Vernichtung
Felder, Haine, Ermordete
Olaf Möller, film-dienst, Nr. 6, 18.03.2004
Die "Berlinale" bot die Gelegenheit, die Spannweite des Kinos von Romuald Karmarkar zu erfahren: Im Wettbewerb lief "Die Nacht singt ihre Lieder", im Panorama "Land der Vernichtung". Ersterer ein vollkommen gefertigter, so konzentrierter wie intensiver, seelisch unsagbar roher und heftiger Spielfilm; letzterer ein äußerlich grober, mit einfachsten Mitteln realisierter Dokumentarfilm, in dem Gesehenes und Gehörtes mit Erinnertem und Erlerntem zum Schwingen gebracht werden: Klänge einer Poesie der Verzweiflung und Trauer.
"Land der Vernichtung" ist – im Kern – ein Fundstück: Das Material, aus dem Karmakar den Film montierte, entstand während einer Recherche-Reise im Sommer 2003 nach Majdanek, Belzec, Treblinka, Sobibor und den umliegenden Landschaften, auf den Spuren der Taten des Hamburger Reserve- Polizei-Bataillons 101, das im Rahmen der "Aktion Reinhardt" in den Jahren 1942/43 an der Ermordung von rund 1,7 Mio. Juden im besetzten Polen beteiligt war. Diese Verbrechen stellen das Sujet von Karmakars nächstem Spielfilm "Ich habe mich, und das war mir möglich, bemüht, nur Kinder zu erschießen" dar. Dass die Recherche einen eigenen Film beinhaltete, merkte Karmakar erst beim Sichten des Materials; hinzugefügt wurden nur Kleinigkeiten im Ton, die den Kontext markieren und Gedankenräume schaffen. "Land der Vernichtung" ist jedoch kein Recherche- Video, sondern ein eigenständiger Film: eine Meditation über die Geschichte, ihre Realitäten und dem, was davon übrig bleibt; eine Vermessung dessen, ein Suchen und Konfrontieren.
Zu Beginn schreitet Karmakar, die Mini-DV auf Augenhöhe, eine Seite des Lagers Majdanek ab, mehr als tausend Schritte, entlang dem Stacheldraht und unter Wachtürmen hindurch, wobei er immer wieder verharrt, Luft schnappt und die Umgebung betrachtet. Das nahe Lublin, die Nähe der Lager und Mordstätten zu den Wohnungen und Häusern der nichtjüdischen Polen ist eines der Themen des Films. Menschen, die sich daran erinnern, wie tagelang nicht weit von ihnen entfernt andere Menschen schrieen und wo bis in die Dunkelheit hinein Schüsse fielen. Menschen, die den Weg weisen können zu jenem Ort in den Feldern, jenem Hain, in dem Tausende und Abertausende Tote verscharrt wurden. Menschen, die mit den Erinnerungen in diese Mordlandschaften leben.
Ein anderes Thema ist die Erinnerung selbst, die Suche, die Problematik der Übersetzung. Karmakar zog ohne Dolmetscher los, allein mit seinem Deutsch, Französisch und Englisch sowie einigen Brocken Polnisch, ganz auf seine Kamera vertrauend. Die Leute konnten ihm unmittelbar nur wenig sagen, sprachlich haperte es auf beiden Seiten. Untereinander jedoch sprechen die Polen unglaublich viel, und das hält die Kamera fest, zur späteren Verarbeitung. Dass Karmakar dies im Film belässt, bezeugt die Mühen dieses Annäherungsprozesses, die Schwierigkeit, miteinander zu sprechen. Er weiß um den spezifischen Wert der Sprache als Heimat, als Schutzraum, wie auch um die Verluste, die sich beim Übersetzen zwangsläufig ergeben: Wichtig ist, was spontan entsteht. Gegen Ende lässt er eine alte Frau aus ihrem Leben erzählen. Fragt, wie es kommt, dass sie in jenem Haus wohnt, wo sie vor fast 60 Jahren gefangen gehalten wurde. Die Frau sagt am Ende, dass sie keine Bilder von sich wolle, was Karmakar bewusst im Film belässt, wohl um die deprimierende Absurdität der Scham der Opfer zu präsentieren (und damit die Perversion der Täter), aber auch um zu zeigen, dass Geschichte den Menschen oft abgerungen wird, dass man Schweigen nicht akzeptieren darf.
Einen roten Faden durch diese Serie von Begegnungen und Kontemplationen gibt es nicht. "Land der Vernichtung" folgt einer Dramaturgie des Schauens und Erfahrens, wobei diese oft wahnsinnige Details enthüllt, deren poetisches Potenzial Karmakar zum Schwingen bringt: dass etwa an einem der Massengräber ein Jude als Bauarbeiter tätig ist, oder dass ein Junge, der neben den Überresten von Sobibor lebt, "Occult Metal" von einer polnischen Band namens Kat (= Henker) hört – das sind Momente, die man nicht deuten, sondern in ihrem Assoziationsreichtum wirken lassen sollte.