System ohne Schatten
Schach zu dritt
Karsten Witte, Die Zeit, 04.11.1983
Zu den Fans seiner Filme habe ich nie gehört, aber ich lese – und das ist keine Herabsetzung – seine Filmkritiken mit Begeisterung. Darin ereignet sich immer etwas, was ich in Thomes Filmen oft vermißte: die Beiläufige Annäherung eines schüchternen Liebhabers an das Medium, die keine Absichtserklärung ist, sondern ein Entwurf aus Nebenlinien wird. Seitdem er Filme macht, ist er der Filmkritik treu geblieben wie sie ihm. In unserem System, mit Schatten, wird der Übergang vom Schreiben zum Filmen nur als Einbahnstraße "nach oben" geduldet. Thome fährt, das ist sein Abenteuer, in beide Richtungen.
Soweit man sieht, hat er kaum Gegner und viele Komplizen in der Filmkritik. "Die vier langen Spielfilme, die Thome ab 1968 drehte (...) sind Kino in einem emphatischen Sinn wie sonst fast nichts in Deutschland nach dem Krieg" schrieb ein Kritiker für "Buchers Enzyklopädie des Films", mit zuviel Emphase und wenig Bewußtsein geschlagen. Thomes Filme muß man entschieden gegen ihre Liebhaber verteidigen, bevor sie sein Material zu dem weiterspinnen, was sie eben nicht sind, industrielle Serienprodukte oder individuelle Freudenspender.
Seine Filme sind ebenso kalt wie persönlich. Das scheint ein Paradox, das erst durch eine dritte Qualität aufzulösen wäre, die mir bislang fehlte. Das ist die Eleganz des Weitläufigen, die aus Licht eine freie Bahn für die Bewegungen der Gefühle schafft. "System ohne Schatten" – das Drehbuch schrieb Jochen Brunow – ist ein eleganter Film, der mit den Gefühlen, mit Gegenständen, mit Träumen und schließlich auch mit den Kinomythen der Neuen Welt spielt, ohne dem Zuschauer je einen Sinnzwang einzureiben.
Dieser Film, ein Thriller, eine kontemplative Etüde, ein Musikfilm, verhaltene action und unschauspielerische Darstellung, ist kein Genrefilm. Er gleitet ins Ungewisse. Er geht über Eis ohne einzubrechen. Sein Ritt über den Bodensee ist in erster Linie ein Kunststück, nie ein Parforce-Akt. Er nimmt uns mit auf eine Reise von Berlin nach Zürich, bricht auf von einem Ort der Phantasie zum anderen, um die Phantasie dort zu verflüssigen. Aber so stimmt es schon wieder nicht, denn die Reisen werden in den Städten selber angetreten. Der Plan ist schon der Weg. Die Reisenden sind mal hier, mal da. Sie machen aus sich kein Geheimnis und bewahren es sich so.
Ein Computerfachmann (Bruno Ganz) trifft einen mußmaßlichen Dealer (Hanns Zischler) und eine Schauspielerin (Dominique Laffin) in dessen Begleitung. Drei Spielernaturen schließen einen Pakt. Jeder tut das Seine und Spaß am anderen. Die Liebe zum Geld eint sie. Bruno Ganz heit "Faber" und Hanns Zischler wird "Melo" genannt. Die Schauspielerin sagt von sich: "Ich bin die Frau, die weint. Ich weine viel." Dominique Laffin spielte die Hauptrolle in Jacques Doillons Film "Die Frau, die Weit" (1978). Hier erzählt sie Bruno Ganz, wie sie auf der Beerdigung ihrer Mutter gelacht hat. "Melo" steht mitnichten für ein Melodram ein. "System ohne Schatten" ist ein Film der Verzweigungen. Der Computerfachmann heißt zwar Faber, ist aber eher ein Träumer als ein "Macher". Dieses Trio trifft sich unter falschen Vorzeichen. "Man muß eine Figur opfern, um zu gewissen", lautet eine sachbezogene Überlegung von Bruno Ganz über das Schachspielen. Er hat Lust zu verlieren und zu gewinnen. Zu diesem königlichen Spiel gehören Umsicht und Scharfsinn und eine dritte Qualität, die der Film einsetzt, nämlich die Überlegenheit, das Spielen aufzugeben, bevor es zum bedrohlichen Clinch kommt, Die kleine Liebe, das große Geld, nichts bleibt unentschieden, aber ihr Verhältnis zueinander bleibt in der Schwebe. Da ist auch die Moral kein Zünglein an der Waage. Der Computerfachmann hat Lust daran, den Computer, der eine neue Dimension der Zeit schafft, herauszufordern. Der saubere Coup ist sicher ein Stück weißer Kriminalität. Faber gleitet vom Denksport in ein Mordgeschäft. Wenn er sich das klar macht, wird es dunkel um ihn. Verstrickt er sich ins Dunkle, dann eröffnen sich ihm helle Räume.
Dieser Film ist eine Einladung in helle Räume, die mit Neugier betreten werden. Manchmal ist der Raum größer als die Geste, die ihn erschließen soll. Wenn Bruno Ganz mit wehendem Mantel durch den Schnee bergan geht, gewinnt sein Schreiten eine Bedeutung, als ginge Empedokles in Richtung Ätna. Zum Glück der Ironie, die derlei Bilder knifft, bricht dann eine Schneeballschlacht die Bedeutsamkeit. Zur Helle gehören Heiterkeit und Weite, wie sie Martin Schäfers Kameraführung bietet.
Ihr eignet etwas, das ich in einer philosophischen Reise durch die Schweiz so beschrieben fand. "Mit objektiver Aufmerksamkeit, die eine Art Höflichkeit auch zu Dinglichem ist, die Welt außerhalb des Ich wahrzunehmen (...), ist Aufgabe einer konkreten Ästhetik." So gefunden bei Joachim Schumacher: "Leicht gen Morgen unterwegs", München, Rogner & Bernhard 1979. Mit "System ohne Schatten" ist Rudolf Thome der konkreten Ästhetik, im Film eine Welt außerhalb des Ich wahrzunehmen, auf eine sehr unaufdringliche Art nahegetreten.
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