Die Schlüssel

DDR 1973/1974 Spielfilm

Die Schlüssel



Erika Richter, Film und Fernsehen, Berlin, Nr. 5, 1991




Drei Szenen aus einem mir unvergeßlichen Film:



1. Eine junge Frau, Ric, in einer nächtlichen Krakówer Straßenbahn. Die Bahn fährt und fährt, hält schließlich, vielleicht in einem Depot, wir wissen es nicht, niemand kommt, vielleicht ist es eine Art Traumort. Es entsteht eine Stimmung der Konzentration und Intimität, die Ric die Kraft gibt, sich das vom Herzen zu reden, was sich in ihr angestaut hat. Sie redet zu ihrem Freund, aber wir wissen nicht, ob er anwesend ist. Vielleicht ist es nur eine Selbstverständigung, eine imaginäre Beichte. Klarsichtig vergewissert sie sich der Ursachen für die sich schon jetzt andeutenden Konflikte zwischen ihr, der Fabrikarbeiterin, die das auch bleiben will, und ihrem Freund Klaus, dem fähigen, ehrgeizigen Ingenieur, der sie bedrängt, daß sie ihr Leben ändern und sich qualifizieren soll. Sie weiß, daß sie das nicht kann, es auch nicht will, so schmerzlich die Konsequenzen unter Umständen auch für sie und ihre Liebe sein können. Dieses Selbstbewußtsein, dieses Beharren auf ihrem Leben als Arbeiterin offenbarte eine unangreifbare, eigenartige, aber auch beunruhigende und erschütternde Kraft.



2. Rics Freund, Klaus, wird nachts von zwei Polen gewaltsam vor eine Gedenktafel gezerrt, auf der der Opfer des Naziterrors in Polen gedacht wird. Mit unbehaglichen Gefühlen fügt sich Klaus, irgendwie fühlt er, daß die Polen ein Recht haben, sich ihm gegenüber so zu verhalten, obgleich er als junger Mann persönlich unschuldig an den Verbrechen seiner Landsleute ist. Dennoch hat er Angst, weiß nicht, was sie wirklich von ihm wollen. Sie lassen ihn schließlich gehen, ohne daß etwas geschieht. Die Situation wirkt unklar, irgendwie hilflos, etwas Dumpfes, aber nichtsdestotrotz Echtes drängt nach draußen, die Frage nach Sühne, vielleicht sogar nach Rache, aber auch Unsicherheit. Wie sollen Schuld und Sühne auf menschliche Weise ausgedrückt werden? Wie können Polen und Deutsche nach den Erfahrungen der Vergangenheit miteinander umgehen?



Diese Szene mußte, um die öffentliche Aufführung des Films durchzusetzen, aus dem Film entfernt werden.



3. Ric ist tödlich verunglückt. Klaus mußte langwierige, quälende Formalitäten erledigen, damit der Leichnam seiner Freundin nach Berlin transportiert wird – ein Leidensweg, der ihm den erlittenen Verlust immer schmerzhafter deutlich macht. Nun geht er durch die alltägliche sommerliche Stadt, lehnt schließlich weinend an einem Brückengeländer. Eine ältere Frau tritt auf ihn zu, eine Polin, sie versucht, ihn zu trösten: Er dürfe nicht weinen, alles werde wieder gut, das ganze Leben liege doch vor ihm. Als sie nach seiner ersten Reaktion merkt, daß er Deutscher ist, sagt sie das auf Deutsch zu ihm. Und während sie zu dem Unglücklichen spricht, beginnen ihr selbst die Tränen aus den Augen zu fließen. Unser Blick fällt auf ihren Arm, darauf ist eine KZ-Nummer. Was mag sie alles erlebt und erlitten haben, von Deutschen! Aber auch: Es gibt Leid, das weiterwirken wird, lebensbestimmend ist. (…)



Das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen, durch die Vergangenheit, die Schuld der Deutschen fast unheilbar belastet, wird mit großer Geduld entkrampft, gerade durch die Beschreibung dieser Liebe zwischen Ric und Klaus, die durch den Tod Ries abgebrochen wird und sich zugleich erfüllt. Die immanente Gefährdung dieser Be­ziehung, die Schönheiten und Schwierigkeiten menschlicher Emanzipation führen zur Vorstellung von notwendiger Toleranz. (…) Dadurch bekam der Film eine Art unerwartete Freiheit. Das war 1973.



Später wurde der Film nicht mehr gezeigt, und als Anfang der 80er Jahre die Grenzen zu Polen wieder geschlossen wurden, folgte das offizielle Verbot. Für mich hat er immer noch eine beklemmende Aktualität.

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