Nachruf auf eine Bestie

BR Deutschland 1982-1984 Dokumentarfilm

Schuld und Sühne

"Nachruf auf eine Bestie": Der Kindermörder Jürgen Bartsch steht im Mittelpunkt eines großartigen Dokumentarfilms



Wolfgang Brenner, TIP Magazin, Nr. 11, 1986

Jürgen Bartsch - das war mehr als ein aufsehenerregender Kriminalfall. Der Name sieht für ein Trauma der Sechziger, für den Sündenfall im in die Jahre gekommenen Wirtschaftswunderparadies. Die Boulevardpresse wälzte damals genüßlich die grausigen Details; Jürgen Bartsch wurde zur perversen Bestie, zum Unmensch gemacht, in einer Illustriertenumfrage nach den furchtbarsten Verbrechern unseres Jahrhunderts kam er gleich nach Hitler, noch vor Eichmann und Himmler. Als Personifizierung des entfesselten Bösen gemahnte er an den Segen der Sozialisation und der Anpassung und wirkte noch lange als imaginäre Keule in den Köpfen. Wer sich an die marktschreierische Aufregung und das wohlige Entsetzen damals erinnert, weiß, wie nötig Deutschland einen Jürgen Bartsch hatte.

Rolf Schübel hat es sich mit seiner späten Dokumentation des Phänomens Bartsch nicht leicht gemacht. Dabei stand ihm alles zur Verfügung, was zu einer lückenlosen und glatten Beweisführung gehört hätte. Kein Täter, der bloß stammelnd und unbeholfen ausweicht, sondern einer, der sich verzweifelt gesprächig und durch das Training der zahllosen Verhöre mit allen Wassern der Gutachterlogik gewaschen zu den Morden, zu einem zerstörten Leben bekennt, um als sogenannter Krankheitseinsichtiger wenn schon nicht mit der Freiheit, dann doch wenigstens mit einem winzigen Rest an Menschenwürde davonzukommen.

Rolf Schübel hat aber auch Zeugen der Kindheit des Jürgen Bartsch und sogar das einzige Opfer, das die Mordhöhle lebend verlassen konnte. Keiner, nicht einmal der als Kind mißbrauchte Mann, will das offizielle Bild des Triebtäters bestätigen. Und Bartsch hat eine an ihren Schwerpunkten sorgsam belegte Biographie, geradezu ein Muster an Erziehung zum Gehorsam und zur Heimtücke: unehelich geboren, von der Mutter im Stich gelassen, von Adoptiveltern lieb- und gnadenlos auf Sauberkeit, auf adrette Gefügigkeit und profillose Gefälligkeit getrimmt, das kurze Glück in einem vernünftig geführten Heim, das Schicksal des Schwächeren in der Schule, Prügel von den Mitschülern, Prügel und Demütigungen im katholischen Internat - ein Szenario der permanent verweigerten Chance, doch noch ein Mensch wie jeder andere zu werden. Jürgen Bartsch bietet alle Voraussetzungen für eine großangelegte Umschuldung: In diesem Leben, in dieser Gesellschaft, mit diesen sozialen und medizinischen Handicaps blieb einem wie ihm gar nichts anderes übrig als anstatt zu lieben zu töten.


Das war Rolf Schübel jedoch zu platt. Einer, der vier Kinder bestialisch abgeschlachtet hat, ist zwar - so bedrückend das auch sein mag - immer noch ein Mensch und keine Bestie, aber auch nicht bloß ein Opfer der tragischen Umstände.

Indem der Film das Alltägliche, ja das Durchschnittliche der Existenz des Mörders Jürgen Bartsch zeigt, wirft er die Frage nach menschlicher Schuld, nach der Verantwortung für ein Leben grundsätzlich auf - nicht als akademische Trockenübung, nicht als juristische Rationalisierung uneingestandener Ängste vor den dunklen Trieben, nicht als bequemer Abgrenzungsmechanismus der moralischen Mehrheit gegen das Monster.

Der Fall des Metzgergesellen ist ein pädagogischer Fäll wie viele andere, nur daß er auf spektakuläre Art tödlich endete. Die sorgfältige Beweisaufnahme dieses "Nachrufs" weigert sich, jemanden zu belasten. Sie forscht nach dem Zünglein an der Waage, das aus dem Musterknaben einen Mörder gemacht hat. Und wenn man sich auf diese notwendigerweise erfolglose, aber nicht überflüssige Recherche einläßt. kommt man zwangsläufig auch zu der Frage, was aus Abertausenden von potentiellen Mördern dann doch Musterknaben hat werden lassen.

Rolf Schübels Film ist dabei keine voreilige Solidarisierung mit Jürgen Bartsch. So weigert er sich beständig, Schlüsse zu ziehen aus den doch so atemberaubend deutlichen Hinweisen der Beteiligten. Sein Anliegen ist weder kriminalistisch noch soziologisch. Es geht ihm um den unglaublichen Einzelfall, um die Tragödie einer normalen Erziehung, einer gerechten Justiz und einer Menschlichkeit, die für einen wie Bartsch nicht gelten soll.

Seine Position ist etwas anachronistisch, aber nicht unzutreffend humanistisch genannt worden. Für einen Dokumentarfilm, zumal mit diesem Thema, ist dieses Etikett ungewöhnlich, eine Belastung vielleicht, aber - ohne Pathos - die höchste Auszeichnung.

"Nachruf auf eine Bestie" hat trotz seiner klugen Zurückhaltung Momente von beklemmender Authentizität. Etwa wenn ein ehemaliger Nachbar berichtet, daß das Kind nur in der dritten Person über sich sprach: "Wenn er doch auch mal so spielen könnte wie die anderen Kinder hier". Oder Bartschs Bericht von einer Flucht aus dem Internat, auf der ihn urplötzlich die Mordlust packt: das ist keine schamhafte Selbstbezichtigung, das ist gekonnt dramatisierte Aufopferung. Solche klischeehaften Selbstinszenierungen der Einsamkeit durchbrechen schon die Grenzen der Dokumentation, schaffen aber die quälende Nähe, die den Film unvergeßlich macht. Jürgen Bartsch hat gewußt, was von ihm erwartet wurde. Als in Sünde gefallener Musterknabe strebte er totale Heilung an. Bei deren Vollzug auf dem Operationstisch ist er am 28.4.76 gestorben. Er wollte sich kastrieren lassen.

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