Die Kümmeltürkin geht

BR Deutschland 1984/1985 Dokumentarfilm

Die Kümmeltürkin geht



Wilhelm Roth, epd Film, Nr. 6, Juni 1985


Eine Frau kommt aus einem Haus, sie trägt zwei Koffer, sie geht in eine menschenleere Straße hinein, links und rechts parken Autos, sie entfernt sich von der Kamera und vom Zuschauer: Melek verläßt Berlin-Kreuzberg. – 80 Minuten später: Melek läuft eine belebte Straße entlang auf den Zuschauer zu, die Einstellung endet mit einer Großaufnahme ihres Gesichtes – Melek ist angekommen in Istanbul, ihrer Heimatstadt.

Nur am Anfang und am Ende ihres Dokumentarfilms argumentiert Jeanine Meerapfel so eindrucksvoll optisch. Diese Bilder aber sagen nicht alles: Die Heimkehr in die Türkei nach vierzehn Jahren in Westberlin ist für Melek die Erfüllung einer Sehnsucht, aber sie folgt damit auch einer Illusion. Noch vor den Abschied aus Kreuzberg hat Jeanine Meerapfel ein paar Aufnahmen aus dem heutigen Istanbul gesetzt: eine Militärpatrouille auf einer Straße; ein paar Männer, die viele Jahre in Deutschland gelebt haben, sagen, sie wüßten nicht recht, wo sie nun hingehören, in der Türkei seien sie durch ihre lange Abwesenheit zu Außenseitern geworden. Und Aufnahmen von der Rückkehr begleitet Jeanine Meerapfel mit einigen Kommentarsätzen: Ob nicht die Ablehnung, der Haß, der den Türken in der Bundesrepublik entgegenschlägt, Melek zu dem illusionären Bild einer heilen Türkei verführt hat?

"Die Kümmeltürkin geht" ist ein Film mehr der Fragen als der Antworten. Er stellt das übliche Bild von Türken in Deutschland auf den Kopf. Hier geht es nicht um eine Großfamilie mit dominantem Vater, ängstlicher Mutter und rebellierenden Kindern, sondern um eine alleinstehende Frau, eine Großstädterin, die sich einmal bewußt als Türkin verkleidet, mit Kopftuch und langem Rock. Sie hat von 1970 bis zum Sommer 1984 in Westberlin gelebt. Jeanine Meerapfel war seit sechs Jahren mit ihr befreundet. Der Film setzt ein vier Wochen von ihrer Abreise aus Berlin, er registriert die frustrierenden Behördengänge, besteht aber vor allem aus Gesprächen zwischen Melek und der Filmemacherin. Einige Szenen aus Meleks Anfangszeit in Westberlin, Wohnheim, Kellerwohnung, werden nachinszeniert.

Der Film erzählt also eine individuelle Geschichte, er erzählt sie aber mit Distanz, auch Kühle, mit Lücken: Aus der Geschichte Meleks werden eher die allgemeinen Erfahrungen einer Türkin in Berlin mitgeteilt, aber kaum die konkreten der Türkin Melek. Wie hat sie den Türkenhaß erfahren? Hat sie in vierzehn Jahren nicht doch persönliche Beziehungen aufgebaut, nicht nur zu Jeanine Meerapfel? Welche Rolle spielen ihre Kinder, die schon lange vor ihr aus Berlin wieder nach Istanbul zurückgegangen sind? Melek wollte den privaten Teil ihres Lebens vor Kamera und Mikrofon nicht preisgeben, sagte Jeanine Meerapfel nach der Uraufführung des Films. Die Folge aber ist: Trotz der Spontaneität, des Witzes, der Klugheit, die Melek im Gespräch an den Tag legt, wird sie in manchen Passagen des Films zu einem Demonstrationsobjekt.

Die "Kümmeltürkin" (so nennt sich ironisch Melek selbst) ist intensiv immer dann, wenn Melek erzählt, nachdenkt, sich mit Jeanine Meerapfel auseinandersetzt, zum Beispiel über die Frage, ob sie in vierzehn Jahren nicht doch "ein bißchen deutsch" geworden seit? Eine blöde Frage, sagt sie. "Deutsch geworden bin ich nicht, Man paßt sich an..."

Aber der Satz den 1981 in Jeanine Meerapfels Film "Im Land meiner Eltern" (über Juden in Berlin) eine Frau sprach, "es gibt heute Schlimmers in Deutschland als Jude zu sein", und dabei die Türken meint, wird von dem neuen Film nicht eingelöst.

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