Kinderspiele
Kinderspiele
Frank Schnelle, epd Film, Nr. 10, Oktober 1993
Ein Blick auf das nächtliche Firmament, dazu, aus dem Off, die Stimme eines Jungen. Viele Sterne, sagt er, seien schon gar nicht mehr dort, wo unsere Augen sie vermuten; was wir sähen, sei nur das Licht längst verglühter Himmelskörper. So beginnt "Kinderspiele". Sehr viel später sitzt Micha (Jonas Kipp) im Garten auf der Schaukel und sendet mit seiner Taschenlampe Hilferufe ins All. Ein anderes Mal liegt der Junge in der Badewanne und stellt sich vor, jede Seifenblase des Badeschaums sei ein bevölkerter Planet, auf dem die Zeit unendlich viel schneller vergehe als bei uns. Da braucht er nur mit dem Finger zu schnippen, um ein galaktisches Inferno anzurichten.
Nicht nur diese Szenen aus Wolfgang Beckers zweiter Regiearbeit nach "Schmetterlinge" erinnern an den schwedischen Film "Mein Leben als Hund". Hier wie dort geht es um ein typisches und doch auch extremes Kinderschicksal, hier wie dort werden die schönen und die grausamen, die lustvollen und die repressiven Seiten des Aufwachsens mit bewundernswerter Präzision und Sensibilität geschildert. Die jugendlichen Protagonisten beider Filme teilen auch die Angewohnheit, sich von ihrer Phantasie in den Weltraum befördern zu lassen, wenn es auf der Erde unerträglich zu werden droht. Der Blick auf die unendlichen Weiten läßt die eigenen Probleme zusammenschrumpfen: eine Frage der Relation.
Wo Lasse Hallströms kleines Meisterwerk das Schweden der späten fünfziger Jahre unter die Lupe nahm, da rekonstruiert "Kinderspiele" das Deutschland der frühen Sechziger. Nüchtern und unsentimental ist Wolf-gang Beckers Blick auf diese Epoche und dabei so genau, daß man den ganzen Mief dieser Zeit zu riechen meint. Selten hat uns ein deutscher Film vergangene Zeiten so plastisch vor Augen geführt, ohne dabei jemals künstlich zu wirken. Die Kostüme, die Ausstattung, das Dekor: Alles wirkt auf ganz unaufdringliche Weise authentisch; es ist, als ob man eine Reise anträte – zurück in die Vergangenheit.
Der Handlungsort wird nicht näher spezifiziert (Becker nennt ihn "Deutschland-Überall"). und auch das Jahr läßt sich nicht genau datieren (einziger Hinweis: Im gerade erworbenen Schwarzweißfernseher von Michas Familie läuft schon das ZDF). Die Geschichte spielt einfach irgendwo, irgendwann in der Provinz; sie ist allgemeingültig.
Die Sommerferien wird Micha wieder einmal zu Hause verbringen, sein Vater (überaus intensiv: Burghart Klaußner) hat weder die Zeit noch das Geld, mit der vierköpfigen Familie in den Urlaub zu fahren. Er schuftet auf dem Bau, arbeitet nebenbei noch schwarz, und wenn noch Zeit bleibt, mauert er am Anbau seines Hauses. Draußen im Leben eine kleine Nummer, daheim der große Macker. Permanent umgibt ihn eine Aura von Wut und Gewalt. Wenn er so dasitzt beim Abendessen, wortkarg und verbissen, im weißen Unterhemd zumeist, wirkt er wie eine Zeitbombe, von der Micha nie wissen kann, wann sie losgehen wird. Dieser Vater belohnt ebenso unvermittelt wie er schlägt; in Michas wachen, ängstlichen Augen, kann man sehen, daß er stets auf alles gefaßt ist.
Die meiste Zeit treibt sich der Elfjährige mit seinem besten Freund Kalli (eine Entdeckung: Oliver Bröcker) herum. Der ist verbotener Umgang: ein Sitzenbleiber mit schlechten Manieren, also genau das, was einen unschuldigen Jungen fasziniert. Von Kalli lernt Micha die aufregenden Kinderspiele: Messerwerfen, Nacktfotos gucken, Spannen. Und Omas quälen. Wenn Kalli und Micha sich in Wettkämpfen messen, zieht Micha immer den kürzeren. Den Druck, der dadurch entsteht (ebenso wie durch die harte Erziehung des Vaters), gibt er an seinen jüngeren Bruder weiter: da nutzt er seine Überlegenheit gnadenlos aus, um sich Vorteile zu verschaffen. "Kinderspiele" ist, unter anderem, ein Film über Machtstrukturen, über Tritte, die von oben nach unten weitergegeben werden.
Becker wahrt konsequent Michas Perspektive. Der Film gibt sich dabei niemals mit einfachen Wahrheiten zufrieden; Micha wird ebenso komplex und widersprüchlich gezeichnet wie alle anderen Figuren (selbst hinter der harten Fassade des Vaters wird irgendwann das Opfer, das er auch ist, erkennbar). Wie äußere Gewalt innere Unsicherheit erzeugt, wie daraus Hilflosigkeit wird und dann wieder Gewalt: das beschreibt "Kinderspiele", ohne jemals zur soziologischen Fallstudie zu degenerieren.
Erstaunlich ist, wie beschwingt und heiter Beckers Erzählung trotz des düsteren Themas daherkommt. Das liegt einerseits an der Ambivalenz vieler Szenen: Was grausam ist, ist oft auch komisch, und umgekehrt. Und es liegt auch an der lakonischen Inszenierung, die sich ganz in den Dienst der Geschichte stellt und mit ihrer fließenden, eleganten Kamerabewegung immer auch von der Lust am Erzählen zeugt. "Kinderspiele", eigentlich eine ZDF- Produktion, kommt nun doch noch ins Kino. Da gehört der Film auch hin.