Dormire
Die Angst vor Achternbusch
Wilhelm Roth, Frankfurter Rundschau, 02.07.1985
Das Filmfest, soeben zum dritten Mal veranstaltet, unsicher pendelnd zwischen lokaler Selbstgenügsamkeit ("ein Festival nur für die Münchner") und internationalem Anspruch (weit über 200 Filme; die größte Präsentation amerikanischer Independents in Europa), hatte einen Höhepunkt, zu dem es sich nicht bekennen wollte. Uraufgeführt wurde Achternbuschs neuer Film "Die Föhnforscher", zum zweiten Mal öffentlich zu sehen waren seine "Blauen Blumen" (die erste Aufführung war beim Forum der Berlinale). Achternbusch selbst in einem Interview: "Die haben mich weder eingeladen noch irgendwie Interesse gezeigt."
Des Rätsels Lösung: Vorgeführt wurden die Filme in der Reihe "Previews" im Kino Eldorado, und diese Vorführungen standen nicht im offiziellen Katalog, sie wurden von Filmfest Direktor Eberhard Hauff bei der Festivalstatistik auch nicht mitgezählt. So kann man den Geldgebern unter ihnen (neben der Stadt München und Sponsoren) der bayerische Staat, treuherzig versichern: Achternbusch ist bei uns nicht im Programm. Kritische Journalisten aber kann man beruhigen: Wir zeigen ihn doch. Und tatsächlich: Auch im Eldorado-Kino und auch bei diesen Filmen verkündeten freundliche Lautsprecherstimmen zu Beginn der Vorstellung in Deutsch und Englisch: " Das Münchner Filmfest zeigt: Die Föhnforscher...Blaue Blumen."
Ist das nun Ängstlichkeit vor dem Big Brother Innenminister in Bonn, der in beiden Filmen direkt oder indirekt sein Fett abkriegt, oder bayerische Schlitzohrigkeit? Ich meine, es gibt Zeiten, da muß man Farbe bekennen. Hätte das Filmfest Mut gehabt, dann hätte es beide Filme im Gloria-Kino im Hauptprogramm gezeigt, wo die Bundesrepublik nur durch Percy Adlons "Zuckerbaby" zu harmlos vertreten war.
Achternbusch, der heute nirgendwo mehr Geförderte, hat in "Blaue Blumen", wo er sich einen negativen Millionär nennt (eine Million Schulden), und in "Die Föhnforscher" seine Armut ins Positive gewendet. "Blaue Blumen", ein Bericht über eine Touristenreise in die Volksrepublik China ist ausschließlich in Super-8 gedreht. "Die Föhnforscher" zum größten Teil. Aufgeblasen auf 35mm und auf eine große Leinwand projiziert, bekommen die Bilder etwas Surrealistisch-Befremdliches, sie sind grobkörnig ohne Tiefe, ihr Rhythmus ist stockend. Auch das scheinbar dokumentarische Bild wird verfremdet. So scheint es ganz selbstverständlich, dass der Oktoberfest-Umzug, den man zu Beginn der "Föhnforscher" sieht, in Wirklichkeit dazu dient, die Einzelteile einer Pershing 2-Rakete an den Ammersee zu transportieren – Achternbusch spricht vom Herrsching 2 vom Jammersee.
Während "Blaue Blumen" optisch wie ein Amateurfilm wirkt, der erst durch die Montage und Achternbuschs bösen und melancholischen Off-Monolog über Deutschland und China über das Filmemachen und das Leben, und über das Sterben, seine Eindringlichkeit bekommt, gewinnt Achternbusch in den "Föhnforschern" seinen Super-8-Aufnahmen eine für ihn neue ästhetische Dimension ab – so dicht zeichenhaft waren die Bilder in seinen früheren Filmen nur selten. Ein normales Passagierschiff auf dem nächtlichen Ammersee wird zu einem Totenschiff auf dem Jammersee: schwarzes Wasser, auf dem Schiff einige wenige Lichter, ein blutroter Himmel, aufgelöst in grobes Korn – ein Endzeit-Bild.
Die Reduktion der Mittel treibt Achternbusch in den "Föhnforschern" noch einen Schritt weiter. Er zeigt naive Bilder, die er auf Zeitungsseiten gemalt hat, manchmal scheinen ein paar Wörter oder Buchstaben durch. Mit abgrundtiefem Ernst erklärt er die Bilder, die erst so richtig zu leben beginnen, wenn man weiß, was diese kuriosen Zeichen und Kürzel bedeuten, daß es auf diesen Bildern nur so von Urnen (wir sind ja in einem Toten-Land) und Arschlöchern wimmelt.
In beider Filmen redet Achternbusch radikal wieder von sich selbst, von seinen Obsessionen. Er spricht von seiner Familie, über Sexualität und Liebe, und immer wieder über den Tod. Er unterscheidet nicht zwischen hohen und niedrigen Dingen; auch eine Badehose, die zu klein ist, (in den "Föhnforschern") kann Anlaß sein für langwierige Meditation und Kalauer. Aber wenn er über sich redet, ist er immer auch eine Kunstfigur. Sein Krieg gegen Zimmermann, der ihm ja aufgezwungen wurde, ist ein realer (es geht um die Existenz Achternbuschs als Filmproduzent), aber auch ein symbolischer: der Kampf gegen die dunklen Mächte. Und Zimmermann ist nicht nur der Filmminister...
Die Erfindungskraft Achternbuschs ist auch in diesen Filmen wieder unerschöpflich. In den "Blauen Blumen" gibt es einen Reiseleiter (übrigens einer Leserreise der "Süddeutschen Zeitung"), der – weil begeisterter Nazi – während des " Dritten Reiches" aus der Schweiz nach Deutschland emigrierte. Er trägt Glasaugen, vertraut sie anderen zum Aufbewahren an, sucht sie, weil er sie oft nicht gleich findet, muß er eine ganze Sammlung von Glasaugen mit sich führen. Außerdem führt er Enten mit sich, zum Vögeln... Eine phantastische Schreckensfigur, die sich immer weiter ausbauen lässt, die auch der Zuschauer weiterphantasieren kann.
In München werden beide Achternbusch-Filme bald ins Kino kommen, dank der Initiative von Thomas Kuchenreuther, dem Besitzer des Eldorado und anderer Kinos.
Wo sind die Kinobesitzer außerhalb Münchens, die sie zeigen, wo die Zuschauer, die sie sehen wollen? In einer Kinolandschaft, wo fast nur noch Filme für Kinder jeglichen Alters (eher infantile als kindliche Kinder) Erfolg versprechen, hat Achternbusch es schwer. Aber verdammt nochmal: Das Kino hierzulande, das nach Hilfe schreit (und sie bekommen sollte!), gäbe seine Existenzberechtigung auf, wenn es vor Achternbusch versagte.
Ein anderer in München uraufgeführter, sehr schöner Film, "Dormire" von Niklaus Schilling, macht es den Kinobesitzern zunächst noch schwerer, aber aus anderen Gründen. Schilling hat, wie schon die beiden letzten Male wieder auf Video gedreht. Das Umkopieren auf Filmmaterial würde 100 000 Mark kosten. Wer gibt heute so viel Geld für ein Kammerspiel, ein elegant am Kitsch entlangschlitterndes Melodram, das gegen die spektakulären Trends der Zeit steht? Schilling liebt das neue Medium, seine technischen Möglichkeiten, und die Unabhängigkeit von Förderungsinstanzen, die es ihm erlaubt – nur eine Fernsehredaktion, diesmal vom Südfunk Stuttgart, musste überzeugt werden. Aber der Gewinn ist auch ein Verlust, weil vermutlich nur das Fernsehen für eine Auswertung zur Verfügung steht.
Schilling erzählt eine – auf den ersten Blick – ganz hanebüchene Geschichte. Eine Frau (Sunnyi Melles), ehemaliges Wunderkind, Pianistin, die gerade ihren Mann vergiftet hat, trifft auf der Flucht im Schlafwagen eine Journalistin (Sabina Trooger); zwischen beiden Frauen entwickelt sich eine sehr ambivalente Beziehung, mit vielen, oft unerwarteten Umschwüngen. Am Ende bleibt, zunächst, alles offen.
Es ist eine richtige Kinogeschichte, die Schilling hier erzählt hat. Die Unglaubwürdigkeiten bekommen, je länger die nächtliche Fahrt von Hamburg nach München dauert, immer mehr, die Folgerichtigkeit eines Alptraumes. Auch der unregelmäßige Rhythmus, zwischen Spannung und Entspannung, dramatischer Zuspitzung und "Hängern", erklärt sich aus der Logik des Traums. Die beiden Frauen rasen durch ganz Deutschland und kommen doch nie von der Stelle, sie sind eingeschlossen in ihre Schlafwagenkabine, die auch die Kamera nie verläßt. Hitchcocks Wunschtraum, einen Film ausschließlich in einer Telefonzelle zu drehen, ist Schilling recht nahegekommen.
Das Münchner Filmfest, an seiner Überfülle eher erstickend als durch sie belebt, plätscherte insgesamt freundlich von Tag zu Tag dahin. Wirbel gab es wenig, Spannung entstand selten. Die Berlinale, der man keine Konkurrenz machen möchte, der man aber doch insgeheim nacheifert, hat vorläufig aus München nichts zu fürchten.