Angel Express
Ein Meer von Geschichten
Angela Schmitt-Gläser, Frankfurter Rundschau, 17. April 1999.
Von Es geht um immer ums Ganze. Die Geschichten balancieren am Abgrund. Sie berauschen sich am Risiko und genießen die Sekunden der Schwerelosigkeit. Angel Express ist ein Film der Nacht. Seine Figuren Spieler und Drifter. Sein Schauplatz Berlin. Ein Junge stolpert in den Waschraum einer Damentoilette und erzählt von einem amourösen Erlebnis hinter der Klotür. Dann schließt er sich ein. Ein schönes, ziemlich zugedröhntes Mädchen erhebt sich mühsam vom Boden, tritt vor den Spiegel und verzieht angewidert das Gesicht. Umständlich zieht sie den Büstenhalter unter ihrem engen Pullover aus. Der Junge kommt zurück, schaut das Mädchen im Spiegel an und verschwindet mit einem lakonischen "Mann, siehst du depressiv aus." Das Mädchen zuckt gelangweilt die Schulter hoch. Dann eben nicht. Später, als nur noch die letzten Drop Outs zwischen den halbleeren Gläsern in der Diskothek sind, sucht das Mädchen and der Theke seine Zahnspange, die es beim Küssen aus dem Mund genommen hat. Eine Fotografin fährt im Aufzug. Ein Kollege steigt ein. Die beiden kennen sich flüchtig. Ob er wirklich schwul sei?; fragt die junge Frau. Nein. Die Frau schiebt den Rock hoch. "Beweis es mir." Unten angekommen richtet sie ihre Kleider und verabschiedet sich kühl, als sei nichts geschehen.
Ein junger Mann spricht auf einer Treppe in einem Nachtclub eine schöne Frau an. Ständig kreuzen fremde Leute das Gespräch. Er spielt sein "Ich stelle dir drei Fragen und gebe gleich selbst die Antworten"-Spiel. Die Regeln schreiben vor, dass eine falsche Antwort den Kontakt sofort unterbricht. Die beiden trennen sich. In den frühen Morgenstunden ruft der junge Mann aus einer offenen Telephonzelle auf der Straße das Mädchen an. Sie liegt lustvoll im Bett. Wenige Worte nur, und die beiden sind heiß. Später hält der junge Mann in einem Waschsalon seinen Kopf unter kaltes Wasser.
Manchmal ertrinkt Angel Express fast in einem Meer von Geschichten. Erst ganz zum Schluss stellt sich heraus, dass eine Waffe vernetzt, was nicht zusammengehört. Einen kleinen Jungen, der es hasst, dass er zu viele Horrorfilme gesehen hat. Eine Prostituierte, der Geld egal ist. Einen jungen Musiker, der sich ohne Grund vom Hochhaus stürzt. Erbarmungslos reduziert der Film seine Figuren auf die Essenz ihrer Rolle. Unbedeutend sind die Namen, austauschbar die Biografien. In dem Verzicht liegt eine Radikalität, die verstört. Trotzdem hat jede der vielen Figuren Momente, wo sie für den Bruchteil von Sekunden gefährlich real wird. Ein gleichgültiger Blick nach unten, der trifft. Eine zaghafte Geste, die berührt. Und plötzlich sehnen wir uns nach dem ultimativen Kick, der alles gewinnen und alles zerstören kann. Wie der Held im Western, der schießt, obwohl er weiß, dass ihn das das Leben kosten kann. Dann wieder treiben die Figuren davon, verschluckt vom fremden, beängstigenden Strudel der Nacht. Angel Express ist von Rolf Peter Kahl, einem jungen Wilden aus dem Berliner Underground. Der Titel erinnert an den Hongkong-Chinesen Wong Kar-wai, dessen Großstadt-Filme Chungking Express und Fallen Angels das Kino aus der Lethargie der letzten Jahre aufgeschreckt haben. Wie Wong Kar-wai arbeiten auch Kahl und sein Kameramann Sönke Hansen viel mit vorhandenen Orten, verfügbarem Licht und lassen die Bilder ausbrennen. Der steile Kontrast zwischen Hell und Dunkel gibt dem Film eine eigene, rotzige Ästhetik. Die mal unruhige, mal sehr konzentrierte Kamera trifft den sexuellen Kern der Geschichten und vernetzt sie, wo sie inhaltlich auseinanderfallen. Die Schauspieler (Ulrike Panse, Dave Allert, Laura Tonke, Chris Hohenester, Kahl selbst) sind kaum bekannt, aber gut. Ihr selbstverständliches Spiel lässt manchen verkrampften Dialog vergessen und fängt das, was gelegentlich zu laut und schrill geraten ist, auf.
Angel Express ist ein stolzer und sehr selbstbewusster Film, der ungeniert zitiert und trotzdem einen eigenen Weg findet. Der Münchner Filmmogul Luggi Waldleitner hat ihn kurz vor seinem Tod möglich gemacht. Sein berühmter Instinkt für ungewöhnliche, junge Regisseure hat nicht getrogen. "Ich glaub, ich brauch was", steht in schwarzen Buchstaben auf großen, weißen Werbe-Plakaten. Oder nur "Was hast du drunter?" Vielleicht wird der Film Kult. Bestimmt aber gehört er zu den wenigen Filmen am Ende der neunziger Jahre, die eine Fin de siècle-Stimmung am Rande der Gesellschaft eingefangen haben. Ein Zeitgefühl, das es in Berlin gibt und nirgendwo sonst.
© Angela Schmitt-Gläser