Rossini - oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief
Träumer Moralisten Muttersöhne
Georg Seeßlen, epd-Film, Nr. 2, Februar 1997
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5. Entsprechend hoch müssen wohl die Erwartungen an jeden neuen Film von Helmut Dietl sein, so als müsse von ihm stets das jeweils nächste Signal zur Rettung ausgehen, und immer wieder das Ökonomische und Künstlerische zusammengezwungen werden. Und so wie in der Entwicklung seiner Figuren die Spannung zwischen neurotischer Zärtlichkeit und ironischer Distanzierung größer werden und ein Ende verlangen muß (einen "endgültigen Abschied"), so ist auch in dieser Erwartung die Krise vorprogrammiert.
"Rossini oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief" also mag so etwas wie eine letzte, notwendige Engführung all der Dietl-Themen und Charaktere sein, die wir auf einem langen Weg, von sehr jungen Träumereien über alle Stadien der Desillusionierung und Korruption verfolgt haben. Eine wirkliche Komödie kann das nicht mehr ergeben. Agonie und Tod sind beständig gegenwärtig in einer Gesellschaft, in der die Muttersöhne sozusagen die Herrschaft übernommen haben, und sei es nur die Gesellschaft der Gäste in einem noblen italienischen Restaurant, dem "Rossini" in München.
Jeden Abend treffen sie sich hier: die alternde Journalistin Charlotte (Hannelore Hoger), die ihren täglichen Orgasmus als Mittel gegen Migräne braucht, der Regisseur Uhu Zigeuner (Götz George), der das Lokal zu seiner Wohnung gemacht hat, der Produzent Oskar Reiter (Heiner Lauterbach), der sich im ewigen Fronteinsatz des Film-Krieges wähnt, der Lyriker Bodo Kriegnitz (Jan Josef Liefers), Valerie (Gudrun Landgrebe), um die sich die beiden streiten und die ihren vierzigsten Geburtstag im Rossini feiert (die Frieden will und Ekstase), der Promi-Arzt und Schönheitschirurg Sigi Gelber (Armin Rohde), und in einem Nebenzimmer, von der angebeteten Seraphina (Martina Gedeck) persönlich bewirtet, der Autor Jakob Windisch (Joachim Kól), um dessen Buch "Loreley" heftig gerungen wird. Er will es nicht verfilmen lassen, Regisseur und Produzent sind gleichwohl auf das Projekt angewiesen, drei Bankleute sind im Lokal aufgetaucht und machen Druck. Zur gleichen Zeit geht es um die Besetzung der weiblichen Hauptrolle. Schneewittchen (Veronica Ferres) stellt es im "Rossini" am klügsten an, und kriegt über alle Leichen hinweg den Part. Zwischen alledem sucht der Wirt Paolo Rossini (Mario Adorf) zwischen seiner Hingabe an die Welt seiner Stammgäste und dem Wunsch, jeden einzelnen von ihnen umzubringen, vergeblich seine Würde zu wahren. Jeder lügt, jeder ist hinter jemand anderem her und vor jemand anderem auf der Flucht. Sex, Träume und Geld umkreisen einander wie rasend, nicht einmal Jakob Windisch, der doch mit der Realität nicht zu tun haben will, schießlich ist er Autor, entkommt dem lüsternen und todmüden Reigen. Der Film, von dem alle träumen und schwätzen, wird am Ende gemacht, aber ganz anders als man es einmal plante, jeder und jede hat mit irgendjemandem geschlafen und ist doch allein geblieben, jeder hat irgendwie eines seiner Ziele erreicht und andere verfehlt, dabei ein kräftiges Stück von sich verloren, jeder Sieg ist eine Niederlage, jeder hat seinen persönlichen Pakt mit dem Bösen, und bei keinem reicht es dazu, ihn wirklich über das Triviale hinwegzuheben, jeder ist verwundet, und ein Mensch ist am Ende tot. Alle Dietl-Motive und alle Dietl-Tugenden sind in diesem Film versammelt, und dennoch bleibt er kälter als die vorangegangenen, verfehlt er es, einen, den vielleicht entscheidenden Schritt weiterzugehen. Das liegt wohl nicht nur daran, daß die gnadenlose Zärtlichkeit die Figuren nicht mehr trägt, der Blick sich bricht zwischen Larmoyanz und Zynismus (als sollten wir uns nie entscheiden können, ob wir Mitleid entwickeln mit diesen rotierenden Gestalten, die ihr selbstgewähltes Gefängnis nie anders als im Tod verlassen werden können, oder wir sie einfach hassen und ihnen die gerechten Strafen wünschen sollen).
Von seinen Helden in "La regle du jeu" (1939) hat Jean Renoir gesagt, es sei keiner unter ihnen, der es wert wäre, gerettet zu werden. Das gilt gewiß auch für die Charaktere von "Rossini"; die einzige Gestalt, die wirklich neu in diese Gesellschaft gelangt, Schneewittchen, entpuppt sich als noch bösartiger und berechnender als der Rest: Erlösung ist auch durch die Märchenfigur, die Verkörperin perfekter Unschuld (auf die Paolo Rossini ebenso wie Uhu Zigeuner prompt hereinfallen) nicht zu erwarten. Es wird nur immer noch schlimmer; am Ende ist auch der tote Mensch nur noch Gegenstand neuer Filmpläne und der intriganten Spiele zu ihrer "Verwirklichung".
Die Verurteilung dieser Gesellschaft ist zugleich radikal und oberflächlich. Die mehrfach gebrochene Autobiographie (nebst jener direkten oder indirekten Porträt-Zitate, die uns auf die eher unergiebigen Pfade eines cineastischen Schlüsselromans führen) hat einen Grad an verzweifeltem Narzißmus erreicht, der zur Erkenntnis nicht mehr taugt. Und anders als bei Renoir funktioniert bei Dietl die Tiefenschärfe dieser Metapher der geschlossenen Gesellschaft nicht. Während in den Arbeiten zuvor die unvollendeten, muttersehnsüchtigen Kindmänner in einer offenen Gesellschaft herumirren und dabei ein durchaus kreatives Chaos anrichten, während sie in "Schtonk!" ihre Unschuld endgültig verloren, haben sie in "Rossini" ganz einfach ihre eigene Gesellschaft gebildet, in der ihre Neurosen zur Normalität werden. Und plötzlich können diese Gestalten einem herzlich gleichgültig werden, gerade dort, wo ihre Kaspereien blutiger Ernst werden. "La regle du jeu" verlangte gleichsam inwendig nach einer Revolution (diskutierte gar die Ansätze ihrer Bedingungen); "Rossini" verlangt vom Zuschauer allenfalls, gewisse Lokale zu meiden und sich über den kulturellen Maquis des deutschen Films keine Illusionen zu machen.
Das ist möglicherweise nicht Dietls fehlender Bereitschaft, wirklich böse zu werden, wirklich seine seltsame Attraktion durch das Milieu zu analysieren, allein zu verdanken; unsere Vorstellungen von Macht und Revolte sind in der Tat diffundiert. Die Metapher selbst funktioniert nicht mehr, und Rossini wird immer dann vage und kraftlos, wenn es um Machtbeziehungen geht, die über die in der geschlossenen Gesellschaft der Filmleute hinausgehen (die also nicht als Umsetzung sexueller Impulse in Filmbilder und die Umsetzung von Filmbildern in Geld und die Umsetzung von Geld in sexuelle Impulse verstanden werden können). Wir wissen zu genau, daß unsere Gesellschaft nicht so funktioniert wie die Gesellschaft im Restaurant Rossini funktioniert, weil insbesondere das, was im letzten Jahrzehnt mit ihr geschehen ist, darin nicht den geringsten Niederschlag gefunden hat. Diese Menschen gehören am ehesten ans Ende der siebziger Jahre, und vielleicht ist das eine der wenigen wirklich funktionierenden Metaphern dieses Films: daß diese Gesellschaft so eindeutig gestrig ist – oder, noch schlimmer, daß sie sich schon in einer Gestrigkeit zu verbergen weiß. So verkommt dieser andere Käfig der Narren zu einer Art exotischem Schaufenster. Daß der Fälscher in "Schtonk!" seine Blähungen zum Teil seiner Fälschungen macht, ist nicht nur einer jener Dietlschen Kurzschlüsse zwischen trivialer Realität und Phantasie, der am Ende wahrhaft furchtbar komisch wirkt in der Szene, als der Vermittler der Fälschung sie mit solch heiligem Ernst verliest. Die Magenschmerzen (und gar: Potenzprobleme) des Regisseurs in "Rossini" und ihre Beziehung zur Herstellung der Film-Phantasie scheinen dagegen nur noch leeres, manieristisches Detail, das über die Beziehung zwischen Kunst/Fälschung und Körper/Wirklichkeit nicht sonderlich viel mehr aussagt als daß sie existiert.
"Rossini" ist wohl am ehesten ein Bündel von Melodramen (und in denen spielte ja die Analyse nie die größte Rolle), das durch komödiantische Szenen zusammengehalten wird. Freilich gibt es kaum etwas grausameres als ein Melodram, das an seine Exaltationen nicht glaubt. "Ein Kino das sich seiner selber nicht schämt", hat Francois Truffaut das Melodram genannt, ein Kino der Schuld, während die Komödie von kaum etwas anderem handelt als von der Scham. Komödie und Melodram in "Rossini" bestätigen einander in dem Bemühen, die Figuren zugleich ernst zu nehmen und es nicht zu tun. Wenn wir ihnen zu nahe kommen, verwandeln sie sich in Kasperlefiguren, und wenn wir auf Distanz gehen, weidet sich die Kamera an ihren Tränen. Auf diese ihre Taktik fällt der Film offenkundig selber herein. Ihr Opfer wird dadurch ein wenig wohlfeil.
Jener "Umweg" durch die sexuelle Ökonomie einer Klasse auf dem Weg zur Erkenntnis, von der Jean-Luc Godard spricht, erweist sich in "Rossini" als Sackgasse. Es entsteht die pure Tautologie: Alle verhalten sich so, wie wir erwarten, daß sie sich verhalten, und auch alle Schauspieler spielen, wie wir es von ihnen erwarten. Vielleicht treffen da aber auch eine Methode und ein Sujet zusammen, die sich nicht ganz vertragen: Dietl läßt seine Schauspieler gnadenlos Partitur sprechen, der Text ist die einzige Wahrheit des Films; die Situation der geschlossenen Gesellschaft aber ist eine klassische (auch filmische) Versuchsanordnung, in der auch das Unerwartete geschehen, der Text sich verändern, die gruppendynamischen Prozesse durchschaubar werden können. Dietl hört, um es pointiert zusagen, dort auf, wo, zum Beispiel, Pedro Almodovar erst anfangen würde. In diesem Moment wird die Dietlsche Tugend, die Präzision, zum Fluch. Noch in keinem Dietl-Film zuvor gab es so viele Dialogstellen, die sich nach Dialogstellen anhören, noch nie so viel brillante Sätze, die als nichts denn als brillante Sätze daherkommen und daher die Szene, die zu ihrer Vorbereitung geschrieben wurde, erheblich diffamieren. Die gewiß bewundernswerte Flüssigkeit der Bewegungen im Raum gewinnt dabei keine organische Selbstverständlichkeit, weist aber auch auf keine zweite Ebene der Bedeutung hin, denn auch hierin begegnen sich das Melodramatische und das Komische, daß sie nichts unausgesprochen lassen. Das aber ermordet jeden Dialogsatz, jede Szene, jede Rolle: die Komplizenschaft des Überdeutlichen mit dem Unverbindlichen.
Aber andererseits ist diese Phase in Dietls Chronologie von Seele, Sex und Phantasie in einer besonderen Kultur offenbar notwendig. Es ist vielleicht doch so etwas wie ein Nullpunkt, an dessen Ende nur der Abschied stehen kann. (Daß der nicht "ins Leben" führen kann, sondern nur in einen anderen Film, hat Uhu Zigeuner schon vorgeführt.) Denn es ist wahrscheinlich ein Mißverständnis, daß das Kino das Leben und das Rossini die Welt wäre.