Inhalt
Die junge, ledige Bauleiterin Linda Hinrichs stellt sich viele Fragen über die Liebe, zum Beispiel ob sich romantische Vorstellungen vom Glück und die Realität vereinen lassen. Auf einer Baustelle lernt die Mecklenburgerin zwei ganz unterschiedliche Männer kennen. Der Baubrigadier Hans Böwe hilft gerade dabei, im Süden der DDR moderne Plattenbauten zu errichten. Es ist nicht seine erste Baustelle, er reist viel herum und hat seinen Platz im Leben noch immer nicht gefunden. Er macht Linda einen Heiratsantrag. Linda ist sich aber nicht sicher, woraufhin sich Hans erst einmal betrinkt. Außerdem lernt Linda den Studenten Daniel kennen und ist fasziniert von seiner Spontanität und seinem Idealismus. So sammelt er auf einem Tanzabend Spenden für Vietnam. Und auf den Vorwurf, er würde die Spendengelder für sich selbst behalten, reagiert er schon mal handgreiflich. Beide Männer berühren in Linda viele Fragen, die sie sich über ihr eigenes Leben stellt.
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Linda Hinrichs, eine junge Bauingenieurin, sucht im Beruf wie privat nach Erfüllung – und scheint beides in Person „ihres“ Meisters, des erfahrenen Brigadiers Hans Böwe, gefunden zu haben. Auch wenn der schon einige Jahre älter ist, häufig ziemlich tief ins Glas guckt und ein unstetes Leben führt von einer Großbaustelle zur anderen quer durch die Republik - trotz Familie mit Gattin und Kindern, welche er auch nicht beabsichtigt zu verlassen. Böwe ist rau, aber herzlich – die personifizierte uneigennützige Menschlichkeit. Linda, die in Mecklenburg verwurzelte, junge und unverheiratete Bauleiterin eines dieser Mega-Projekte, Tausende von Wohneinheiten entstehen in Plattenbauweise irgendwo im Süden der DDR, fühlt sich allerdings auch zum in etwa gleichaltrigen, unangepassten und dabei politisch wie gesellschaftlich sehr engagierten Studenten Daniel hingezogen, dem lebensfrohen jungen Mann aus der Eingangsszene, der während der Semesterferien auf dem Bau jobbt und bei einer Betriebsfeier Spenden für Ho Chi Minhs (Nord-) Vietnam sammelt, womit er sich unter den Kollegen keine neuen Freunde schafft, um es vorsichtig auszudrücken.
Nachdem Böwe ’mal wieder Besuch von seiner Tochter Steffi erhalten hat, wird Linda das schmerzhafte Fehlen der eigenen Familie vor Augen geführt (Iris Gusner arbeitet häufiger mit stummen, dafür aber sehr sprechenden Bildern: Heidemarie Wenzel stopft sich wahllos mit Pralinen voll). Nur einmal hat sie kurz Besuch von ihren schon recht betagten Eltern (eine Petitesse auf Plattdeutsch) erhalten und ihr dämmert, dass sie im Grunde ebenso heimatlos ist wie der Zugvogel Böwe. So hat Daniel bei ihr leichtes Spiel, wenn auch vorerst nur für eine Nacht. Denn Linda, die selbst noch am letzten Baustein ihres akademischen Abschlusses bastelt, hat eigentlich gar keine Zeit für private Eskapaden. Während Hans Böwe ihr am anderen Morgen einen Heiratsantrag macht, der Linda (auch über sich selbst) erbost ihre blonde Perücke auf den Schreibtisch knallen lässt, macht Daniel, inzwischen von der Kranführerin Erika in luftiger Höhe geerdet, „daheim“ das Essen und hängt die Wäsche auf. Was Linda im ersten Moment tröstet, aber nicht befreit – denn nun steht sie endgültig zwischen zwei Männern. Und beide wollen sie ganz für sich beanspruchen...
Iris Gusner, nach Bärbl Bergmann („Ein ungewöhnlicher Tag“) und Ingrid Reschke („Kennen Sie Urban?“) erst die dritte Defa-Regisseurin, hat sich in ihrem sehr sprunghaften Debütfilm „Die Taube auf dem Dach“, der den Anschein erweckt, im Schnitt noch nicht ganz fertiggestellt worden zu sein, auch inhaltlich verzettelt. Denn die herb-poetische Dreiecksgeschichte, zu der auch der Nebenstrang einer elegant-mondänen Klinikärztin Dr. Sommer und ihres verlorenen Sohnes Daniel gehört, wird flankiert von seinerzeit sehr realistischen, aber politisch völlig unkorrekten Episoden aus der Arbeitswelt. In denen es um den sehnsuchtsvollen Blick Günter Naumanns geht, wenn er wie schon häufig zuvor den nach Freiheit dürstenden Gefangenenchor aus Verdis „Nabucco“ anhört im Schallplattenladen der Monika Lennartz, um die gutbürgerliche Familie - und um die sozialismuskritischen Äußerungen des Glaskugelfabrikanten Sturm: „Jede Weihnachtsfeier ist so bunt wie wir sie wollen. Die Leute kaufen unsere fertigen Kugeln und ihnen bleibt nur die Freiheit, sie auf dem Tannenbaum zu verteilen.“
Und immer wieder geht es um die für die offiziöse DDR selbstverständlich längst geklärte Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von Selbstverständnis und Selbstverwirklichung der Frau, also um den realsozialistischen Spatz in der Hand und die utopisch-kommunistische Taube auf dem Dach. Nicht zuletzt geht es um kriminelle Machenschaften, die in der Tauschgesellschaft der früh am Boden liegenden DDR-Ökonomie auch unter Staatsbetrieben gang und gäbe waren. So gibt es für Lindas Baustelle nur die benötigten Festmeter Holz, wenn der Forstwirtschaftsleiter des VEB Sägewerks „Florian Geyer“, Richter, Straßenplatten für seine Datsche erhält. Was der Absatzleiter im VEB Plattenwerk gefälligst einzusehen hat...
So ist es kein Wunder, dass Iris Gusner bei der schließlich verweigerten Abnahme durch die Defa-Direktion Mitte April 1973 zu hören bekam, in jeder Szene den Staat angegriffen und der Arbeiterklasse ins Gesicht gespuckt zu haben. „Die Taube auf dem Dach“ wurde nicht zur Aufführung freigegeben, blieb wie zahlreiche andere „verbotene“ Defa-Produktionen jedoch auch nicht im Giftschrank der Babelsberger Studios liegen: Das Filmmaterial wurde vernichtet. Erst im Zuge der Restaurierung anderer Verbotsfilme entdeckte der Kameramann Roland Gräf zur Jahreswende 1989/90 eine farbige Arbeitskopie, die jedoch durch Schichtablösungen so gravierende technische Mängel aufwies, dass Gräf als Sicherungsstück ein Duplikatnegativ in Schwarz-Weiß herstellen ließ. Für die reichlich verspätete Uraufführung am 7. Oktober 1990 im Berliner „Babylon“ wurde davon eine Positivkopie gezogen. Auch sie verschwand nach zwei Kino-Aufführungen am Rosa-Luxemburg-Platz zusammen mit der Arbeitskopie und dem Duplikationsnegativ spurlos.
Nach jahrelanger Suche fand die Defa-Stiftung im November 2009 in den Kellerräumen des insolventen ehemaligen Kopierwerks auf dem Gelände des Studios Babelsberg das Schwarz-Weiß-Duplikatnegativ. Die restaurierte Fassung war in Bild und Ton weitgehend komplett, wobei ein Loch in der Tonspur mittels Untertitelung gestopft wurde. 20 Jahre nach dem Mauerfall konnte „Die Taube auf dem Dach“ am 6. September 2010 in Anwesenheit der Regisseurin im „Arsenal“ am Potsdamer Platz ein zweites Mal erstaufgeführt werden. Die TV-Premiere findet am 17. Mai 2021 im „Dritten“ des rbb statt im Rahmen des mehrtägigen Jubiläums-Festivals „Defa 75“ des Mitteldeutschen Rundfunks und des Rundfunks Berlin-Brandenburg.
Pitt Herrmann